„Was gibt es denn da zu grinsen?“, knurrte der Zwerg in der ihm typischen mürrischen Art. Unter stillem Protest stieg er dann auf die Kiste und öffnete sehr behutsam eine deutlich hervortretende Ader, die Maradill ihm vorgeschlagen hatte.
„Die hätte ich auch genommen!“, murmelte Kronglogg dabei.
Tatsächlich, ein kaum erwähnenswertes, schwaches Rinnsal des warmen Drachenblutes floss aus dem winzigen Schnitt, der sich gleich darauf wieder schloss. Adalbert streichelte liebevoll die Wunde, wischte das wenige Blut seines Freundes behutsam ab und ging danach zu Merthurillhs Kopf. Er packte den Drachen bei den Hörnern und hätte ihm am liebsten einen dicken Kuss auf die Nüstern gedrückt, wenn er sich dabei nicht selbst zu kindisch vorgekommen wäre.
Nachdem sich nun die Aufregung etwas gelegt hatte, forderte Sintarillh alle auf, gemeinsam frühstücken zu gehen und dem goldenen Drachen seine wohlverdiente Ruhe zu gönnen.
In der großen Speisehalle herrschte bereits reges Treiben. Es hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass Merthurillh in den Heilschlaf gefallen war. Der weiße Lorhdrache Okoriath forderte Adalbert mit einer einladenden Geste auf, direkt neben ihm an seinem Tisch Platz zu nehmen.
„Guten Morgen, mein Jungritter Adalbert von Tronte. Ich vermute, die heutigen Ereignisse haben dich ganz schön aus der Bahn geworfen.“
Adalbert nickte zustimmend und stellte fest, dass ihm die Anrede als Jungritter sehr gut gefiel.
„Wie fühlst du dich denn?“
„Der Schreck war groß, aber jetzt geht es mir schon deutlich besser und ich bin einfach nur noch froh. Eure Tochter Sintarillh hat uns erklärt, dass Merthurillh nicht tot ist, sondern nur in den Heilschlaf gefallen ist.“
„Ich wusste gleich, dass meinem dicken Herumtreiber nichts passiert sein konnte!“, mischte sich Kronglogg in das Gespräch ein und setzte sich mit den Elfenbrüdern zu ihnen.
Der Junge versuchte krampfhaft, sich nicht anmerken zu lassen, dass er bei diesen Worten am liebsten laut losgelacht hätte. Er hatte den Zwerg längst durchschaut, aber das wollte er ihm nicht zeigen. Kronglogg war mindestens genauso um Merthurillh besorgt gewesen wie Adalbert. Warum sonst hatte er den heilkundigen Elfen Maradill daran gehindert, die Ader zu öffnen, und dann selbst äußerst behutsam den Beweis dafür erbracht, dass der Erste Drachenritter des Rates noch am Leben war?
„Gleich nach dem Frühstück werden wir uns alle zu einer Ratsbesprechung zurückziehen, denn der ehrenwerte König Erithjull muss uns leider noch heute Abend verlassen“, sagte der Lorhdrache in die Frühstücksrunde.
„Aber Euer Erster Ritter Merthurillh schläft doch noch“, wandte Adalbert ein.
„Glaube mir, ich würde gerne auf Merthurillh warten, aber Erithjulls bevorstehende Abreise und interessante neue Erkenntnisse unseres Historikers Olstaff lassen mir keine andere Wahl. Wir müssen noch heute darüber sprechen. Das wäre auch in Merthurillhs Interesse.“
„Kann ich irgendetwas dazu beitragen, dass Merthurillh etwas schneller gesund wird und wieder aufwacht?“
Adalbert hatte die Frage zwar an den Lorhdrachen Okoriath gerichtet, bekam die Antwort aber von der ersten Drachenlady Coralljah, die den Jungen schon die ganze Zeit mit seltsamen Blicken gemustert hatte.
„Weißt du, mein lieber Adalbert, du bist für unsere Schule zu einer echten Bereicherung geworden. Du zeichnest dich nicht nur durch deine ehrlichen Worte, sondern noch mehr durch deine guten Taten aus. So hast du es geschafft, die äußerst gefährliche Aufgabe erfolgreich zu meistern, das verlorengegangene Horn von Fantigorth zurückzubringen. Und du hast dabei unbewusst dafür gesorgt, dass dich jeder hier an der Drachenschule in sein Herz geschlossen hat. Deine Liebe zu Merthurillh ist etwas ganz Besonderes. Vertrau mir, wir werden uns bestens um seine Pflege kümmern. Gerade in diesem Moment ist die heilkundige Sintarillh bei ihm und kümmert sich um sein Wohl. Du hast doch schon zuvor am Krähenpass gesehen, dass sie eine wirkliche Könnerin ist, die eine Menge von ihrem schweren und geheimnisvollen Fach versteht.
Nach unserer Ratsbesprechung möchte ich mit dir endlich zu der Stelle gehen, an der sich dir die alten Runen offenbart haben. Es muss doch einen Grund dafür geben, warum du sie sehen konntest. Ich glaube nicht an einen puren Zufall, sondern bin davon überzeugt, dass es einen ganz besonderen Grund dafür gab. Nennen wir es eine Vorbestimmung, die mich ahnen lässt, warum das Horn genau an dieser Stelle so seltsam reagiert hat, den Stollen in dieses unheimliche grüne Licht gehüllt hat und gleichzeitig dein Geistdrache genau dort den Kontakt zu dir gesucht hat. Diesem Mysterium sollten wir unbedingt auf den Grund gehen! Ich kann es dir zwar nicht erklären, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es irgendwie mit deiner Suche nach deinem Geistdrachen zusammenhängt. Aber selbst wenn das nicht so sein sollte, muss ich unbedingt erfahren, welches Geheimnis diese alten Drachenrunen seit so langer Zeit unbemerkt verborgen halten.“
„Lady Coralljah, ich weiß doch gar nicht, ob ich die genaue Stelle wiederfinden werde und ob das Horn dort auch wieder sein grünes Licht freigeben wird. Vielleicht reagiert es gar nicht und wir werden nichts erkennen können.“
„Wir werden sehen, was geschehen wird. Sei doch etwas zuversichtlicher, mein junger Adalbert. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du die Stelle wiederfinden wirst. Wenn wir im Stollen sind, werden wir die genaue Situation nachstellen, die zu diesem besonderen Ereignis geführt hat. Also sollten wir die drei Elfenbrüder und das Horn mitnehmen.“
Adalbert hoffte, dass die Drachenlady Recht behalten würde. Bei dem Gedanken, an der bevorstehenden Ratsrunde ohne seinen Drachenfreund teilzunehmen, fühlte er sich unwohl, denn er konnte sich nicht vorstellen, ganz alleine in Merthurillhs Loge zu sitzen.
Mach dir keine Gedanken, Adalbert. Es ist bestimmt in Merthurillhs Sinne, dass wir unter diesen Gegebenheiten den Rat einberufen, ohne dass er anwesend ist. Außerdem wird es sicherlich noch genügend Möglichkeiten geben, ihn über das Besprochene zu informieren.
Die Stimme des Lorhdrachen erklang direkt in Adalberts Kopf. Schon wieder hatte er seine Gedanken gelesen. Doch der Junge war ihm nicht wirklich böse, da seine Worte ihn tatsächlich etwas beruhigt hatten. Er schmunzelte nur leise lächelnd und schüttelte ungläubig den Kopf. Okoriath konnte es einfach nicht lassen, in die Gedanken anderer einzudringen.
Entschuldige bitte, ich weiß, du magst es nicht, wenn ich auf diese Weise Kontakt mit dir aufnehme. Aber glaube mir, ich arbeite schon an mir , kam die Antwort auf Adalberts Kopfschütteln in seinen Gedanken. Dem Jungen war völlig klar, dass der Lorhdrache niemals der lockenden Versuchung würde widerstehen können, in die Köpfe anderer einzutauchen.
Völlig unerwartet hielt jemand Adalbert von hinten die Augen zu. Sofort wurde er an seinen Elfenfreund Antharill erinnert, wie dieser ihn damals davor bewahrt hatte, blind vor Wut in die Arme der Trolle zu laufen. Als er so die Hände auf seinen Augen fühlte, stiegen schöne und gleichzeitig auch sehr traurige Erinnerungen in ihm hoch. Trotzdem wusste er, dass jemand jetzt und hier darauf wartete, von ihm erraten zu werden.
„Das kann nur die kleine, freche und süße Biggi sein!“
„Ich bin nicht klein!“, antwortete das Mädchen kess, als es seine Hände von Adalberts Augen nahm.
„Das stimmt, du bist schon richtig groß“, stimmte er ihr zu.
„Birgit ist schon beinahe so groß wie Kronglogg. Im nächsten Jahr wird sie ihn bestimmt schon überholt haben!“, fügte Jordill lächelnd hinzu.
„Auf die körperliche Größe kommt es doch überhaupt nicht an!“, brummte Kronglogg. „Dass ihr Elfen und Menschen euch immer so viel auf eure Länge einbildet. Ein prächtiger Zwerg kann viel größer sein, als beispielsweise der längste Mensch!“
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