Rüdiger ist erfolgloser Regisseur und wird 40. Ich weiß zwar nicht, was es da zu feiern gibt, aber seine Kochkünste sind einfach besser als alles, was er jemals in einem Film inszenierte. Seine Buffets sind ein Fest wert.
Durch meinen Vater sind meine Geschmacksnerven bestens trainiert. Zwar bin ich vor meiner Familientradition geflüchtet, aber gutes Essen gehört zu den wichtigsten Dingen in meinem Leben.
Ich halte mich an diesem Abend, als einer der ersten Gäste, in der Nähe seines reichhaltigen Buffets auf und baue es kontinuierlich ab.
Kein Drehtag weit und breit, kein Figur-alarmierendes Werbecasting. Auf Castings für Schokolade gehe ich sowieso nicht mehr, denn meine Figur würde den Verdacht erregen, das Produkt mache dick.
Ich lade mir noch ein paar getrocknete Tomaten auf den Teller.
Langsam finden sich immer mehr Partygäste ein. Sie sind alle auf Knopfdruck gut gelaunt, und man könnte meinen, diese Sonnenscheinmenschen hätten nie Probleme.
Einige nähern sich dem Buffet, an dem ich wie festgeklebt stehe. Sie lächeln mich an, stellen sich vor. Reizend.
Nach höchstens 10 Sekunden habe ich ihren Namen wieder vergessen. Das Buffet ist mein Gesprächspartner.
Die Pflaumen im Speckmantel blicken mich unverschämt provokativ an. Und es gibt Fisch in allen Variationen. Sardellen in Zitrone eingelegt mit Walnüssen oder ein heimisches Felchen-Filet, das wahrscheinlich noch vor kurzem in einem der teuren bayrischen Seen herumgeschwommen ist. Rüdiger liebt diesen Fisch wie sein Gewässer. Da kann auch ich nicht widerstehen.
Oder einfach mal wieder ein Paar Münchner Weißwürste mit süßem Senf. Auch wenn es nicht mehr Mittag ist. Diese Tradition hat sich sowieso schon mit der Einführung von Kühlschränken erledigt. Ich angle mir ein Paar dampfende Weißwürste aus dem Suppentopf. Sie sind schön prall und nicht geplatzt.
Gleich wird mich niemand mehr ansprechen wollen. Wer möchte sich schon mit einer Frau unterhalten, die an einer Wurst saugt? Schließlich sollte man alte bayrische Traditionen achten. Das geht so: Man nimmt die Wurst in die Hand und beginnt am offenen Ende und mit leichten Druck, den Inhalt herauszusaugen. Die Pelle ist leider nicht essbar, aber die Füllung. Wenn man dabei noch lange rote Fingernägel hat, erinnert es schnell an einen Porno – jedenfalls kann man damit schnell männliche Stimulationsträume lostreten.
Also saugen, genießen und schweigen. Schließlich bin ich Single.
Essen war mir schon als Kind wichtig. Da ich schon immer viel allein war, wurde der Kühlschrank bald zu meinem besten Freund. Er war der Einzige, der mir zeigte, was das Leben an Fülle zu bieten hatte. Er machte es mir schmackhaft. Und er zeigte mir die Welt.
Wenn ich seine Tür langsam öffnete, sah ich die Skyline von New York. Ich achtete immer darauf, dass meine Mutter mindestens zwei Tüten Milch einkaufte, weil ich das World Trade Center so liebte.
Eine Colaflasche war das Empire State Building und das verdorbene Gemüse in den unteren Schubfächern die sagenumwobene Bronx.
Joghurt, Einmachgläser, Butter und Marmelade formierte ich immer wieder neu zum Times Square und zum Broadway. Nutella war auch schon in meiner Fantasie immer ein modernes Museum.
Die Milchtüten waren aber am wichtigsten. Wenn keine Milchtüten im Kühlschrank waren, konnte ich nur noch auf Paris und London ausweichen. Meine erste Torte im Kühlschrank führte mich nach Rom. Alle diese Städte habe ich immer wieder „verinnerlicht“.
Eigentlich besteht mein leichtes Übergewicht aus den Städten der Welt. Mein Hintern gehört zu den Megastädten der Welt – São Paulo.
Da spreche ich auch schon von meiner ersten Problemwurzel. Mein Po hat schon immer eine gute Größe – für meinen Geschmack eine zu große. Also befinde ich mich schon seit Jahren in der Ab- und Zunehmfalle. Ich bin froh, dass er sich hinten befindet und wir uns nicht ständig sehen müssen, geschweige denn uns über den Weg laufen.
Richtig dick bin ich nie gewesen, aber mit den Bikini-Figuren meiner Kolleginnen werde ich wohl nie mithalten können. Ich sehe mich auch eher in winterlichen Filmen. Mäntel stehen mir einfach gut.
Sobald ich wieder Arbeit habe, werde ich schlanker.
Bei einem Theaterstück zum Beispiel nehme ich immer mehr ab, weil ich mich viel bewege, der Vertrag länger als drei Tage dauert und ich glücklich bin, gebraucht zu werden.
Drehtage beim Film sind eher seltener. In diesem Fall mache ich immer zuvor eine Diät und zwänge mich dann in eine viel zu kleine Miederhose. Der visuelle Effekt entspricht einer dreiwöchigen Suppen-Kur, zwei Wochen Körneressen oder einem zweimonatigen Besuch einer Weight-Watchers-Gruppe.
Nachdem ich die Weißwürste ausgesaugt habe, kann ich mich dem mediterranen Teil des Buffets widmen. Eine kulinarische Reise.
Ich entscheide mich für die leckeren gegrillten Auberginen und lade großzügig Antipasti auf meinen Teller. Als ich gerade ein paar ölige Oliven geangelt habe, spüre ich wie ein ungefähr 1,84 cm großer Schatten auf mich zukommt. Fragt sich noch, ob er es auf mich oder auf den griechischen Salat abgesehen hat, in dem ich mittlerweile nervös herumrühre. Ich hasse Schafskäse. Ich hasse es, ein verlorener Single auf dieser schlechten Party zu sein. Ich habe meine Miederhose zu Hause vergessen. Zu spät.
Sein Aftershave hüllt mich völlig ein. Eine aufdringliche Art der Annäherung. Bestimmt Löwe, denke ich mir noch, und im selben Moment habe ich ein Gespräch an der Backe.
Auch noch einer vom Film. Ein Schauspieler. Den kenne ich vom Fernsehen und muss so tun als sähe ich ihn jetzt zum ersten Mal. Die Serie, in der er eine Hauptrolle spielt, finde ich übertrieben schlecht.
Aber er kann sich dadurch bestimmt einen halben Liter von diesem raumgreifenden Aftershave leisten, das jetzt wohl schon auf meinen getrockneten Tomaten klebt.
Ich habe auch keinen Hunger mehr, wenn ich diesen wichtigen dünnen Kollegen so vor mir stehen sehe. Mein Gott, sieht der gut aus! Zwar sehe ich auch gut aus, aber der Glanz des Erfolges ist wahrscheinlich das reinste Aphrodisiakum.
Er stellt sich als Axel vor, was ich natürlich schon längst weiß, fragt nach meinem Namen, den er noch nicht wissen kann, obwohl ich hoffe, dass diese Zeit noch kommen wird, in der er weiß, dass ich Hannah bin, Hannah Eichhorn. Das klingt nach Erfolg.
Erwartungsgemäß will Axel wissen, woher ich das Geburtstagskind kenne. Rüdiger kenne ich noch als Regieassistenten. Das hätte er auch bleiben sollen, bis eine Chance in seine Nähe kommt.
So nah, dass er sie auch packen kann. Aber nein, er wollte mutig sein, obwohl er gut zu tun hatte, in das berühmte kalte Wasser springen, und das blieb auch kalt. Ab und zu ein kleiner selbstfinanzierter Kurzfilmdreh, mit dem er bisher noch nicht für Furore gesorgt hat. Geschweige denn, dass er einen Preis bei einem Kurzfilmfestival gewonnen hätte.
Seine Chancen standen noch schlechter als meine. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, dass er noch Lust hat zu feiern. Aber das Wunder klopft zum Glück an jede Tür.
Ich habe ihn schon mehrfach zur Eröffnung einer Filmcatering-Firma zu überreden versucht.
Mit den Kochkünsten hätte er ein volles Auftragsbuch. Wenn er schon nicht mit Heino Ferch drehen kann, dann könnte er ihn wenigstens ernähren. Auch ein intimer Prozess.
Doch dafür ist scheinbar sein Stolz zu groß. Deshalb kann dieses brachliegende Potenzial nicht ausgeschöpft werden. Und das ist sein größtes.
Jedenfalls sage ich Fernsehaxel, dass ich Rüdiger schon seit acht Jahren kenne, in guten und in schlechten Tagen. Heute ist ein Guter, denke ich. Jedenfalls für mich.
Es gelingt mir, Fernsehaxel das Gefühl zu geben, ich würde ihn tatsächlich nicht kennen. Die Situation macht ihn langsam nervös, ich finde sie ist noch nicht genug ausgereizt. Jetzt verspüre ich Lust, seinen Bekanntheitsgrad offen infrage zu stellen. Ich mache ihn mit dem „König der Small-Talk-Sätze“ bekannt.
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