Als er das Zimmer verlassen wollte, hob der Hindu am Vorhang die Hand. »Die Herrin erwartet den Sahib!«
Der Bulgare stutzte einen Augenblick. Sein Instinkt warnte ihn, aber dann gewann sein Stolz die Oberhand. Es sollte ihm eine Erleichterung sein, dieser Frau seine Meinung zu sagen. »Wo ist sie?« fragte er mit betonter Unhöflichkeit.
Der Hindu ging ihm geschäftig voraus, und ließ ihn am Vorhang mit einer tiefen Verbeugung vorbei.
Dumascu stand in einem verschwenderisch ausgestatteten, indischen Zimmer. Schillernde Seidenteppiche bedeckten jede Handbreit der Wände. Rund um den Fußboden, der in weichen Fellen versank, lagen Polster und Kissen. Gedämpftes Licht spielte auf den goldenen Beschlägen der Hocker und Tischchen.
In der Mitte des Zimmers, auf einem breiten Tigerfell lag die indische Frau. Mit einer weichen Handbewegung lud sie den Gast ein, näherzutreten und sich auf ein Polster zu setzen. Ruhig und interessiert studierte sie sein Gesicht.
»Sie sind heißblütig und mutig«, sagte sie träumerisch, mit ihrer vollen, tiefen Stimme. »Ich kann mutige Männer gebrauchen.«
»Ich liebe es nicht, einer Unbekannten zu gehorchen!« sagte er kurz mit bewusster Schärfe. »Ich liebe es deshalb auch nicht, meinen Mut Ihnen gegenüber zu beweisen.«
Sie lächelte leicht.
»Sie werden Gelegenheit erhalten, ihn auch sonst zu beweisen. Rauchen Sie?«
Sie reichte ihm eine Schale mit Zigaretten. In ihrer Frage lag etwas wie ein suggestiver Befehl.
Obwohl der Ingenieur eigentlich ablehnen wollte, griff er doch nach den Papyros und setzte eine Zigarette in Brand. Ein leichter, süßlicher Geruch verbreitete sich in dem Zimmer.
»Ich danke Ihnen, dass Sie, einer der hoffnungsvollsten und erfolgreichsten Techniker Frankreichs, meinem Ruf gefolgt sind«, setzte sie das Gespräch freundlich fort. Irgend etwas in ihrer Stimme zwang den Bulgaren, ganz gegen seine Gewohnheit, unhöflich zu bleiben.
»Ich bin nicht Ihrem Ruf gefolgt, Madame, sondern meine Behörde hat mich nach Benares geschickt, um dort technische Arbeiten zu leiten.«
Der süße Geruch der Zigarette legte sich wohltuend auf seine Sinne.
»Benares? Die Stadt des heiligen Wassers?« wiederholte sie. Es war wie ein Singen. »Sie ist schön, diese Stadt, aber geheimnisvoll, Benares. Waranasi...«
Ein eigenartiger Zauber ging von diesen Silben aus, als sie sie sprach. Dumascu sah plötzlich deutlich das Bild dieser Stadt vor sich, leibhaftig, greifbar, wie auf der Leinwand eines Lichtspieltheaters. Die endlosen Reihen der Moscheen und Tempel, die Badeplätze mit den Tausenden badender Pilger, die hier mit Inbrunst das heilige Wasser tranken, in dem tagaus, tagein zahllose Leprakranke Heilung suchten, und verkohlte Überreste verbrannter Leichen vorbeitrieben... Waranasi, die Stadt des heiligen Wassers... Benares... die Stadt des Wahnsinns...
Wie aus einer anderen Welt kam die Stimme da vorne zu ihm, und doch glaubte er, die Augen der Frau ganz dicht vor sich zu sehen, wie zwei flammende Sonnen. Dazu dieser seltsame, süßliche Duft...
»Wenn Sie gewusst hätten, dass ich Sie rief, wären Sie also nicht gekommen?« gurrte es zärtlich.
Benares... Waranasi... bohrte es in seinem Gehirn.
»Nein!« wollte es in ihm aufbegehren, aber der feine, bläuliche Rauch der Zigarette in seinem Munde umfing sein Willenszentrum mit einem seligen Rausch.
»Ich - weiß - nicht,« meinte er leise. Es war wie ein Hauch. »Ich - weiß - nicht ...«
Wie eine Liebkosung fühlte er eine weiche Hand auf seiner Stirn, einmal - zweimal - dann sank er glücklich lächelnd zurück auf sein Polster - tief - tief - immer tiefer...
Die Indierin schaute stumm auf ihn hinab. Unverrückt bohrten sich ihre Blicke fest auf die Nasenwurzel des Schlafenden, dessen Kopf in ihrer geöffneten Hand lag.
Leise, wie eine fremdartige Beschwörungsformel kamen kurze fremdartige Silben aus ihrem Mund.
»Tat wam asi - Du bist ich - ich bin du -«
Dann schlug sie den Gong und verschwand durch den Vorhang...
Wie ein silbernes Schlangenpaar zog sich das schmale Gleis der neuen elektrischen Bahn vom nördlichen Benares hinaus in das Land.
Wagen auf Wagen rollte aus den riesigen Lagerhäusern am Bahnhof und nahm den Weg zur neuentstandenen Märchenstadt, die fast über Nacht aus dem Nichts gewachsen war. Zwanzig Kilometer vom heiligen Ufer des Ganges, mitten in der Einsamkeit. Walter-Werndt-Stadt sagten die Europäer, Stadt des Zauberers nannten sie die Eingeborenen.
Jeder Wagen, der das Gleis entlang rollte, war hochbeladen mit Material aller Art: Eisenträger, Aluminiumtafeln, Glasscheiben, Bretter, Betonplatten, verschnürte Pakete.
Indische Lastträger hockten auf dem hinteren Trittbrett und pressten sich unter die überstehende Ladung, um eine Handbreit Schatten zu finden vor der glühenden Sonne.
Oder sie schimpften mit den braungebrannten Burschen, die mit verwegenem Übermut auf den Wagen herumturnten und sich jeden Augenblick das Genick zu brechen drohten.
Stadt des Zauberers... Je näher die dunkle Masse am Horizont rückte, desto lebhafter wurde das Treiben. Baracken, Lagerschuppen, Betonhäuser schoben sich an die Gleise heran und verteilten sich spinnennetzartig nach allen Seiten.
Weiße, gelbe, braune Gestalten wimmelten zwischen den freien Räumen, zu Fuß und mit dem Pferd, mit Ochsen und Elefanten, hastig rennend oder keuchend unter allerlei Lasten.
Tausend Geräusche zerschnitten die Luft, Hämmern und Kreischen, Rattern und Knarren, Bohren und Sägen, ein höllischer Lärmpegel. Dazwischen das Schreien der Arbeiter, die kurzen Rufe der Aufseher, Dampfsirenen und Pfeifensignale, Läutwerke und Motorknattern. Die ganze Szenerie glich einem bunten Jahrmarkt mit Hunderten von beschäftigen Menschen.
Europäische Techniker empfingen die Züge und verteilten die Wagen nach flüchtigem Blick auf die Anschrift der Ladung auf Anschlussgleise. Wie das dunkle Zentrum einer Schießscheibe lag der Bahnhof inmitten der anderen Bauten, die das größte Laboratorium aller Zeiten enthielten.
Riesige Hallen und langgestreckte Steingänge waren ebenso zu sehen, wie breite, runde und eckige Türme von seltsamen Formen. Dazwischen befanden sich dicke Betonwände, tief in die Erde versenkt, bergwerkartige Stollen und erdüberdachte Labors. Die Wachen vor ihren Eingängen zeigten, das ihre gefährliche Ladung schon innen verstaut war.
Von einem der bremsenden Wagen löste sich die schlanke Gestalt eines einzelnen Mannes. Einer der Techniker kam ihm diensteifrig entgegen. »Ah - Mister Nagel - schon wieder zurück?«
Der Ankömmling reichte ihm freundlich die Hand. »Direkt von München. Hier noch alles in Ordnung?« Er schob den Hut in den Nacken und streckte den sehnigen Körper. Mit aufmerksamen Augen überblickte der das Gelände und quittierte das geschäftige Treiben mit einem zufriedenen Lächeln.
»Ihr habt tüchtig geschafft in der letzten Woche. Halle drei und vier sind schon fertig -«
»Und eins und zwei schon ganz eingerichtet. Auch Ihr Sternwartengebäude. Wir kommen noch schneller voran, als gedacht.«
»Wo ist Doktor Werndt jetzt?«
Dem Techniker strahlte der Stolz aus den Augen. »Im Hauptbau fünf. Er richtet die beiden Turmräume ein. Der neue Ingenieur ist auch bei ihm.«
Doktor Nagel hob erstaunt die Brauen. »Ein neuer Ingenieur? Seit wann...?«
Der andere schien den Einwurf erwartet zu haben. »Es ist der Vertreter der internationalen Stiftungskommission. Ein Franzose oder Bulgare.«
»So.« Das sonnengebräunte Gesicht des Ingenieurs verfinsterte sich. »Na, ich werde ja sehen.«
Mit einem kurzen Gruß drehte er sich ab und ging geradenwegs auf den Turmbau zu, der die Mittelstadt abschloss.
Beim Anblick der lärmenden Arbeit erhellte sich seine Miene allmählich. Mit impulsiver Lebhaftigkeit erwiderte er die Grüße der Aufseher und Ingenieure, an deren Herzlichkeit er seine Beliebtheit erkennen konnte.
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