Die Genossin und der Sozialarbeiter fragten sich, warum ein so gut angezogener Endfünfziger an ihrem Schattendasein teilhaben wollte, bis sie ihm bei der Arbeit zusahen. Ihn hatte eine Parkinsonerkrankung zum Frührentner gemacht, ihm aber nicht die Approbation genommen. Also zielte er ab sofort auf Patienten hinter dem Bahnhof Zoo. Und mußte es mal schnell gehen, half die Genossin.
So richteten die Drei sich ein. Der Sozialarbeiter fuhr vor und zurück, flickte Seelen und kämmte die alten Sonnenschirmtroddeln, die Genossin jagte Tetanusspritzen in obdachlose Hinterteile und der Urologe zappelte an den Patienten vorbei.
Vielleicht war es zu idyllisch für den Sozialarbeiter. Vielleicht mußte er plötzlich zu wenig kämpfen. Vielleicht gab es auch zu viele Sonnenflecken. Er blieb nicht trocken. Schlief immer öfter am Lenkrad ein, bis er eines Morgens sturzbetrunken zwischen eins und fuffzig vom Ordnungsamt erwischt wurde. Er verlor Führerschein und Halt, trank sich aus der Wohnung und verschwand im alkoholischen Orkus.
Die Genossin und der zitternde Urologe übernahmen den Transporter, hatten aber nicht den vom Amt geforderten LKW-Führerschein für die täglichen drei Meter. Die zwei Frührentner fürchteten um ihren zwar unbezahlten aber Seelenfrieden stiftenden Arbeitsplatz und hängten Zettelchen im Bahnhof Zoo aus.
Einen dieser schiefen Zettel – der Urologe hatte darauf bestanden, sie anzukleben – sah die während ihres Gerichtsverfahrens beschäftigungslose Hanna und dankte mal wieder ihrer alten Mitbewohnerin Grete, die ihr zum achtzehnten Geburtstag Fahrstunden für Motorrad und LKW geschenkt hatte, falls die schlechten Zeiten zurückkämen und sie würden fliehen müssen.
Über die Frage, ob in Kriegszeiten irgendwer nach Führerscheinen fragte, hatten sie ausgiebig gestritten. Grete hatte das eigene Erlebnis des Zweiten Weltkriegs in die Waagschale geworfen, auf der anderen Seite kämpfte eine neunmalkluge Nachgeborene. Hanna nahm die Stunden. Und kam so, über zwanzig Jahre später, mit Führerschein für alle Lebenslagen in die Pferdekutsche ohne Sonne.
Dr. med. Johanna von Bredow wuchs in einer Altbauwohnung am Rüdesheimer Platz auf. Sie flitzte durch zahllose Zimmer, schlitterte über langgestreckte Dielen und hüpfte unter großen Fenstern, durch die das Sonnenlicht blinzelte. Als Nesthäkchen wurde sie umschwirrt und geherzt von fünf älteren Schwestern, erzogen von der Mutter Tilla, einer Biologieprofessorin an der FU, und behütet von Grete, Kreuzberger Lehrerin und seit ewigen Zeiten engste Freundin Tillas.
Die kleine Hanna war das blubbernde Herz dieser Familie, ihre mit Liebe gefüllte Brutkugel. Sie war glücklich, wenn es allen gut ging, krabbelte auf einen der sich bietenden Schöße und rollte sich ein. Und ihre Liebe machte nicht an der Wohnungstür halt. Hanna brachte in die familiäre Weiberwelt angeschlagene Wesen, die sie glaubte erretten zu müssen. Ein auf der Straße aufgelesener einsamer Turnschuh, ein aus dem Mülleimer geklaubter Wanderstock, ein vom Sperrmüll eingesammelter alter Koffer mit Aufklebern aus aller Herren Länder. Eine humpelnde Streifenmaus mit nur einem Hinterbein, eine Siebenpunkt-Marienkäferkolonie, der beim Überqueren des Bürgersteigs die Ausrottung drohte. Versuchte eine der Schwestern, die kleine Hanna vor Überbelegung der Wohnung zu warnen, schob das Nesthäkchen die Unterlippe vor, zog die Augenbrauen zusammen und ballte die Fäuste.
Denn Hanna war nicht nur mitfühlend, sondern auch zornig. Mied geöffnete Türen und rammte mit Wucht die nächstbeste Wand, bis Tilla, Grete und die fünf älteren Schwestern lachend die Hände hoben. Hanna baute unter den fernen Stuckdecken Terrarien, Höhlen und Nester, sammelte Löwenzahn, fütterte Samen und Nüsse und entließ tränenüberströmt in Freiheit.
Der gesamte Stolz der weitverstreuten Bredows lag, nachdem der Krieg von Gütern und Landbesitz nichts übriggelassen hatte, in der Intelligenz und beachtlichen Körpergröße ihrer Frauen. Als auch Hanna zu einer dunklen und grazilen Schönheit von nahezu einem Meter neunzig herangewachsen war, mit knapp achtzehn ein einsnuller Abitur hinlegte, wollte sie, die Helfende und Mitfühlende, Medizin studieren. Die mütterliche Freundin Grete, als Kriegskind an Stabsärzten geschult, fand das die Schnapsidee des Jahrzehnts. Aber es war sinnlos, Hanna brach durch die Wand.
Das Medizinstudium hatte Hanna eingesponnen in ein immer undurchdringlicheres Netz aus Diagnosen, Verfahren und Hierarchien. Als sie schließlich am Patienten landete, um endlich anwenden zu können, was sie gelernt hatte, war ihre Brust eng und sie atmete flach. Aber sie bat sich selbst um Geduld, glaubte, hinter der letzten Prüfung werde sich schon jenes Berufsleben verbergen, das sie erhofft hatte.
Hanna kam als junge Assistenzärztin an ein Krankenhaus. Ihr Chef, Professor Magahn, war in allem ihr genaues Gegenteil. Von der gedrungenen Statur eines kleinwüchsigen Stieres, ohne Hals, und mit rotem, zu einer Bürste rasiertem Haar um eine immer weiter ausufernde, rosig glänzende Glatze.
Magahn hatte sich durch das Medizinstudium gequält, um aus der Enge seiner Herkunft aufzusteigen an das für ihn höchstmögliche Ende der gesellschaftlichen Hierarchie. Er war Chirurg geworden, um über Leben oder Tod zu entscheiden. Ein kleiner Gott mit stoppeligem rotem Haar.
Die unter Frauen aufgewachsene Hanna, angerührt von einer auf dem Bürgersteig bedrohten Marienkäferkolonie, verstand ihren Beruf als Berufung und war am Ende ihrer Ausbildung, nach Jahren des Lernens und Wartens auf einen machtversessenen, cholerischen und rachsüchtigen Kobold getroffen.
Professor Magahn war erfahren in jeder Intrigenvariante, bewandert in jedem hinterhältigen Schachzug, kannte jedes stinkende Winkelchen des Systems, jede faulende Leiche im Keller der wichtigen Menschen der Stadt. Der Chefarzt war eine unausweichliche Größe in der Berliner Ärzteschaft, er war Hannas Alptraum, ihre personifizierte berufliche Sackgasse, und er hatte ein Problem mit Frauen.
Hanna stand es inʼs Gesicht geschrieben, weshalb sie Ärztin geworden war. Magahn hatte schon viele junge Frauen mit warmherzigen Motiven an seinem OP-Tisch stehen gehabt, und er hatte sie alle zerstört. Aber Hannas Körpergröße, ihr adliger Name und ihre Attraktivität waren eine besondere Herausforderung für den kurzbeinigen Stier. Professor Dr. Magahn mußte zu seiner Assistenzärztin aufsehen, das konnte nicht gut gehen.
Hanna erkannte das Problem sofort, versteckte, was sie von diesem Chef hielt und zügelte ihren Zorn. Sie senkte den Kopf, war ausgesucht höflich, ertrug Magahns Angriffe, erfüllte klaglos seine sie abstrafenden Dienstpläne, erlitt seine Anzüglichkeiten, wich seinen Intrigen aus, duckte sich unter seinen Schlägen und verlor niemals die Kontrolle.
Magahn war eine überzeugt cholerische Natur, und er erwartete Unterwerfung. Das Brüllen war seine Profession, die Niedertracht sein Alltag, der Ausbruch seine Methode. Er herrschte durch Schrecken, verbreitete durch willkürliche Entscheidungen Angst und führte, indem er fallen ließ. Je öfter Hanna ruhig blieb, je mehr sie den Kopf hob in ihrer lichten Höhe, desto giftiger sprühte Magahn unter ihr Funken.
Er verweigerte ihr die für die Facharztprüfung erforderlichen Operationen, schob sie viel zu oft in Nachtdienste, ließ sie jedes Wochenende arbeiten, und als sie ihn trotzdem, sichtbar schmaler und blasser werdend, nicht um Gnade bat, geschweige denn ihre Fassung verlor, versetzte er sie auf die Innere II.
Die Station war reserviert für mißliebige Kollegen, die sich mit absurden medizinischen Handlungen an hoffnungslosen internistischen Fällen abarbeiteten. Heraus führte für Patienten der Weg nur in Pflegeheime oder auf Friedhöfe, für die sie betreuenden Ärzte in ein Burnout.
Und dann rollte ein Pfleger der schönen, großen, hilfsbereiten Gräfin, die vor Müdigkeit inzwischen nicht einmal mehr schlafen konnte, die 94jährige Hermine Neuhaus auf die Station.
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