Und dann war da die Tür.
Sie war einmal prachtvoll gewesen, Pforte für ein mächtiges Haus. Hundert Jahre später jedoch blieb sie für seine im Abseits lebenden Bewohner nur noch ein uneingelöstes Versprechen, vom vollen Mond in fahles Licht getaucht. Zwei Atlasbrüder trugen auf ihr die Last der Welt, eine sterbenskranke Nixe bildete den Türknauf aus Messing, golden leuchtend von so vielen Händen seit so vielen Jahren. Ranken aus großblättrigen Blumen rahmten das vergitterte Glas in ihrer Mitte. Über ihr dämmerte der verrußte Schriftzug »Apotheke«, im trüben Fenster daneben hing schief ein Maklerschild.
Alika hatte ihren Ort gefunden.
Ein ehemaliger Seemann hatte dort dreißig Jahre Schrauben und Nägel, Ösen und Muttern, Unterlegscheiben und Scharniere verkauft. Hatte Schuhe besohlt, Schlüssel geschliffen und Schilder geprägt. Als man ihn tot inmitten seiner Schrauben fand, sang Freddy Quinn in Endlosschleife »La Paloma«.
Es gab die alte Apothekeneinrichtung noch, der Seemann hatte sie genutzt. Jede Lade, jede Nische war gefüllt mit Kram aus längst vergangenen Zeiten. Alika räumte Platz frei für ihre Staffelei und hängte ein Schild in das Fenster: Alles mögliche zu verschenken.
Sie feierte eine rauschende Einweihungsparty mit ihren Künstlerfreunden. In der kleinen Küche kochte sie georgische Spezialitäten. Die ersten Nachbarn kamen. Zogen Schrauben und Nägel aus Schubladen und Kistchen, linsten nach der Narbe auf Alikas gespaltener Stirn und schnupperten an ihrem fremden Essen. Alika ließ sie kosten.
Ihre Apotheke war von Anfang an ein offener Ort. Wollte sie malen, hängte sie ein Schild in das Fenster: Bin im Kaukasus. Niemand störte sie dann. Aber öffnete sie die Tür und die Gerüche ihrer Heimat wehten auf die Straße, blieb sie nicht lange allein. Als erstes kamen die Huren, dann die Ladenbesitzer von nebenan, die Nachbarn aus dem Haus. Alle bewunderten ihre Bilder, niemand kaufte sie. Aber alle wollten essen, und Alika war eine gute georgische Gastgeberin, sie fütterte sie mit den Genüssen ihrer Heimat.
Dann kam ein Mann von der Gasag, um ihr das Gas abzudrehen, das sie seit Monaten nicht hatte bezahlen können. Sie bettelte, weinte und sie bekochte ihn. Er rieb sich den wohlig gefüllten Bauch und schlug ihr vor, ein Restaurant zu eröffnen. In ihrem Essen stecke Gas für einen ganzen Winter.
Und Alika sah sich um. Sah in dem Apothekentresen eine Bar, darüber einen Zapfhahn. Sah in den Regalen Weinflaschen stehen, hörte Gäste lachen, sah zusammengeschobene Tische, ihre Bilder an der Wand, hörte georgische Musik.
Sie sammelte Stühle aus abgelebten Wohnungen, baute Tische aus Zimmertüren, Bänke aus Bauholz, schweißte Lampen und Kerzenständer aus Wasserrohren und schließlich ihr neues Schild. Zwei Monate später eröffnete »Alikas Apotheke«.
Schnell wuchs das Lokal. Immer tiefer fraßen sich ihre Gasträume in das Haus hinter der Apotheke mit der verwunschenen Tür. Alika eroberte den Hof, begrünte ihn mit exotischen Pflanzen ihrer Heimat, sprang in das Hinterhaus, belegte dort das Parterre mit ihren Gästen und stieg über den zweiten Hof in das Gartenhaus. Stellte Köche und Kellner, Spüler und Putzfrauen ein. Verhandelte mit dem Gesundheitsamt, besorgte Papiere und Genehmigungen, bekochte Aufseher vom Gewerbeamt und hatte immer mehr Gäste.
Als erstes kamen die Kaukasier. Abchasen, Armenier und Aserbaidschaner, Tschetschenen, Inguschen, Mescheten und Osseten, Georgier und Russen. Es wurde gefeiert und gelacht, geschlemmt, gesoffen, gesungen und geweint, gestritten und sich versöhnt.
Manchmal war Alika jedoch froh über die ungewöhnliche Aufteilung der Räume. Wenn es zwischen den einzelnen Gruppen rumpelte, trennte sie sie mit harter Hand. Sie wies sie in verschiedene Räume und ließ sie sich trotzdem bei ihr zuhause fühlen. Niemand wollte dieses Stück Heimat in der Fremde missen, alle gehorchten ihrer georgischen Herdmutter.
Dazu gesellten sich Besucher vom Stuttgarter Platz. Altlinke Oberstudienräte bestellten grünen Tee. Bärtige Nachwuchsväter nahmen an Alikas georgischen Fleischtrögen Auszeit vom veganen Alltag. Charlottenburger Hinterhofganoven pumpten sich am Tresen auf, bis zum ersten kaukasisch ausgetragenen Streit unter Männern.
Bald sprach sich das ungewöhnliche Restaurant am Stuttgarter Platz in der Stadt herum. Es wurde schick, in der Apotheke bekannt zu sein. Schlagersternchen machten Selfies mit Alika, Prominenzfriseure legten gefönte Hundchen auf Tische und fütterten sie mit Lammfleisch. Es kamen die Rechtsanwälte mit ihren Cabrios, ein Staatsanwalt aus dem Kiez, schließlich die Richter und zuletzt die Polizei. Jeder aß von Alikas Tellerchen und ihr aus der Hand.
Sie bezahlte ihre Gasrechnungen pünktlich, lernte, über Schutzgeldbeträge zu verhandeln, wies Russen und Kaukasier in ihre jeweiligen Schranken und spielte sie gegeneinander aus. Malte nur noch an freien Tagen und wurde immer besser. Plötzlich verkauften sich die Bilder der schönen Apothekerin.
Inzwischen war Alika eine gestandene Wirtin, hatte den Kaukasus nach Berlin geholt, lebte mit allen Sinnen in ihm, und ihre Gäste liebten sie dafür, daß sie sie daran teilhaben ließ.
Der Frühling war überraschend mit einem fremden südlichen Wind in die Stadt eingezogen. Viel zu früh, aber zu schön, um vorsichtig zu sein. Alikas Apotheke wurde zu einem nervösen Bienenstock.
Kaukasische Mafiosi gingen zwischen Vorspeise und Hauptgang ihren Geschäften nach, lauter als sonst, wilder als sonst. Tscherkessen zeigten Verkaufsphotos von siebzehnjährigen Dorfschönheiten. Alte Männer schwärmten von vergangenen Bärenjagden und im Traum gewonnenen Kriegen. Eine Gruppe junger Aserbaidschaner hatte Tische zusammengestellt, breitete Landkarten für eine Bergtour aus und markierte die einzelnen Etappen mit Weingläsern. Ein vorbeitorkelnder Russe stieß an die Tischplatte, Wein schwappte auf den Kleinen Kaukasus. Ein Aserbaidschaner sprang auf, die Männer maßen sich mit Blicken, der Russe murmelte eine abfällige Entschuldigung.
Die Gefahr, daß verschiedene Volksgruppen aneinandergerieten, war groß an so einem flirrenden Frühlingstag. Und ausgerechnet heute feierte Kriminalrat Fockemeyer, Chef aller Mordermittler der Stadt, korrupter Strippenzieher und unverwüstlich intrigantes Stehaufmännchen aus alten Westberliner Zeiten, in Alikas Apotheke seinen Geburtstag. Mit der halben Strippenzieherprominenz der Stadt.
»Aber Herr Kriminalrat, ein Glas von unserem guten georgischen Wein vertragen Sie noch. Sie sind doch ein vitaler junger Mann«, sagte Alika und schenkte nach.
Fockemeyer zog lachend seine sehr junge armenische Flamme an sich. »Ich will gar nicht mehr jung sein. Hatte nix zu sagen und eifrig das Auge auf den Pfad der Tugend gerichtet.«
»Wann soll denn das gewesen sein?«, fragte Rudi Laritzke, ein mit allen Berliner Wassern gewaschener Baulöwe, der seit zehn Jahren sein Geld mit Nichtstun auf dem Schönefelder Flughafenneubau verdiente.
»Da kanntest Du mich noch nicht.«
»Das glaube ich, alter Ganove.«
»Vorsicht, was Du sagst«, Fockemeyer wedelte mit dem Zeigefinger, »ich bin die Polizei.«
»Willst Du uns alle auf der Flucht erschießen?«
Die Geburtstagsgesellschaft lachte dröhnend.
Zwei Tische weiter schimpfte ein Gast auf Russisch mit dem Kellner. Der Bienenstock summte.
»Frag unsere schöne Alika«, Focke legte vertraulich seine Hand auf ihren Arm, »was für eine fürsorgliche Seele der tugendhafte Fockemeyer ist. Wenn es ein ernstes Problem in der Apotheke gibt, ist der Kriminalrat sofort zur Stelle.«
»Darf ich nachher darauf zurückkommen?«, fragte Alika und sah zu dem mit dem Russen verhandelnden Kellner.
»Du hast doch nichts ausgefressen?« Fockemeyer grinste Alika an. »Etwa einen Zechpreller erschlagen? Und jetzt soll der Onkel von der Keithstraße die Leiche entsorgen?« Die armenische Flamme lachte quietschend und hielt ihre weichen Finger vor den Mund.
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