- bei meinem Fahrrad ist der Rahmen durchgebrochen.“
„Deine Mutter hat doch auch eins!“
„Da war der Rahmen auch gebrochen!“
- ein Auto hat mich angefahren und ich musste erst medizinisch versorgt werden.
- unserer Nachbarin ist der kleine Junge aus dem Kinderwagen gefallen. Ich habe ihr erst geholfen.
- bei der Kaufhalle hat ein Lieferwagen die Kohlköpfe verloren. Da kam ich nicht vorbei und musste einen Umweg gehen.
- ich habe keine Unterrichtsbücher mit dabei, ich wusste nicht, dass ich noch am Unterricht teilnehme werde.“ (Die Schülerin hatte einen Arztbesuch und kam zur 6. Stunde)
Ich habe hier nur einige Beispiele genannt.
Mit Beginn des Schulweges mussten die Langschläfer nachdenken und somit war ihre Müdigkeit vergessen. Originell und glaubhaft wollte ich die Entschuldigung haben.
Und das Ergebnis? Wenn einer zu spät kam, wurde die Klasse munter und erwartungsvoll. Durch diese skurrilen Ausreden kam frischer Wind in die mufflige Morgenstimmung und der Unterricht konnte heiter beginnen.
Ich aber konnte nur hoffen, dass das Erfinden der verrückten Ausreden nicht zu Verspätungen animierte.
Es bringt auch Vorteile, wenn sich der Lehrer bei bestimmten Situationen den Schülern einmal anpasst.
Der Schulalltag beginnt mit dem Schulweg. Dieser war für Schüler und Lehrer sehr lang.
Bis 1976 war unsere Schule auf drei Ortsteile aufgeteilt. Der mittlere Ortsteil, zentral gelegen, war für die erste bis vierte Klasse vorbehalten. Die fünfte und sechste Klasse besuchte den 2,5 Kilometer entfernten Ortsteil und die siebente bis zehnte Klasse den 2,5 km entfernten anderen Ortsteil. So legten die Schüler ab fünfter Klasse täglich einen Schulweg von fünf Kilometer zurück, also täglich zehn Kilometer. Dies bei Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte, bei Sturm und Regen – jahrein und jahraus. Wen wundert es, wenn zu Schulbeginn in der begehrten Zuckertüte auch eine Regenbekleidung zu finden war. Abgehärtet durch Wind und Wetter waren unsere Kinder immer gesund. Stellten andere Schulen ihren Lehrbetrieb wegen Grippeerkrankungen ein, wir nicht. Allerdings wiederum zum Ärger unserer Kinder, die dadurch nicht in den Genuss zusätzlicher Ferientage kamen. Aber auch die Lehrer, die Fachunterricht erteilten, gingen diesen Weg, allerdings in den Pausen. In zwanzig Minuten mussten sie diesen Weg nicht gehen, sondern hetzen.
Dieser Schulweg war kein gewöhnlicher Schulweg. Er führte zum größten Teil durch eine reizvolle Landschaft. Nicht nur der jahreszeitliche Wechsel war zu erleben und die Pflanzen- und Tierwelt kennen zu lernen. Nein, der kleine Bach, der sich durch die Wiesen schlängelte, bot viele Möglichkeiten für wagehalsige Unternehmen und ließ den Schulstress schnell vergessen.
Meine Gedanken wandern noch einmal diesen Weg. Erinnerungen werden wach.
Nach kurzer Wegstrecke führte der Weg über die Werrabrücke. Das Ufer an den äußeren Brückenpfeilern war damals von einem dichten Erlengebüsch überwuchert. Manch ein Passant wird sich über die zartblauen Nebel gewundert haben, die aus dem Erlengestrüpp aufstiegen. Ein Naturphänomen?
Doch nach kurzer Zeit krochen einige Bengel mit fahlem Gesicht und Bauchschmerzen hervor. Andere kamen nicht so weit. Ihr Mageninhalt war schneller und etliche Büsche wurden wohl gedüngt. Ihre ersten Zigaretten hatten ungeahnte Wirkungen zur Folge.
Von der Brücke biegt ein Weg ab und eine unendlich schöne Landschaft breitet sich aus – die endlosen Wiesen des Werratals und am Horizont der Thüringer Wald.
Jeder Tag ein anderer eindrucksvoller Anblick. Aber blühende Wiesen und die dort lebenden Tiere kümmerten wohl kaum. Eine Baustelle reizte viel mehr. Das versprach Abenteuer pur. Große Geräte und tiefe Löcher lockten mehr als Blumen und Vögel.
Am Wasserwerk wurde gebaggert. Einsam und verlassen stand der Bagger am Wegrand. Niemand in Sicht, Verbotsschilder interessierten nicht, die Absperrung war kein Hindernis.
Die jungen Techniker besichtigten ihn eingehend, kletterten auf das schwere Gerät, begutachteten und fachsimpelten. Jeder wusste mehr und prahlte mit seinem Wissen. Die Neugier war befriedigt. Doch dann entdeckten sie die tief ausgebaggerten Löcher, voll mit gelblich-trüben, lehmigen Wasser. Jetzt erwachte der sportliche Instinkt. Diese Löcher überspringen. Das war es! Die Technik des Anlaufs war aus dem Sportunterricht bekannt. Die Weite wurde abgeschätzt und für möglich befunden. Die gelb-braune Brühe war kein Hindernis. Der Sportlehrer hätte bei diesen Weitsprungversuchen seine wahre Freude gehabt. Einer nach dem anderen schaffte es und die Sprünge wurden immer wagehalsiger. Nur einer stand abseits - der Kleinste der Gruppe. Mit dem Ranzen auf dem Rücken stand er und staunte, wie alle ihre Sprünge bewältigten. Dann bemerkten ihn die anderen. Sie forderten ihn zum Sprung auf. Aber er traute sich nicht und Hänseln war die Folge. Jetzt war er der Mittelpunkt. „Los!“
„Spring doch!“
„Traust dich wohl nicht?“
„Du schaffst es!“
„Memme!“
„Feigling!“ Pausenlos drangen diese Aussagen an sein Ohr. Feigling? Nein, das wollte er nicht sein.
Immer noch den Ranzen auf dem Rücken, nahm er Anlauf. Zögerte! Noch einmal Anlauf! Und wieder ein Zögern, diesmal den Spott im Rücken. Noch einmal Anlauf! Ein Sprung! Er war im Loch verschwunden. Er war komplett verschwunden. Er war weg! Nichts mehr zu sehen! Erstarrt standen die anderen vor Schreck. Dann handelten sie. Mit Mühen, Anstrengungen, Stangen und Brettern gelang es ihnen, den Unglücksraben aus dem Loch zu ziehen. Gemeinsam brachten sie den Lehm-Schlamm-Freund nach Hause. Bevor dieser die Wohnung betrat, wurde er auf dem Hof mit dem Schlauch abgespritzt.
Bereits auf diesem Schulweg konnten also die Schüler ihre technischen und sportlichen Interessen wahrnehmen, wenn möglich auch unter Beweis stellen.
Doch der Weg bot noch weitaus mehr Abenteuer.
Eine kurze Wegstrecke floss ein Graben nebenher. Er plätscherte ruhig unter Gestrüpp und wurde kaum beachtet. Dieser Graben floss weit in die Werrawiesen bis er schließlich im Erlensee, heute versumpft, mündete. Er war der Anziehungspunkt für junge Angler. So auch für zwei Bengel, die auf dem Heimweg waren. Sie verließen den Schulweg und pirschten an diesem Graben entlang, bis weit in die Wiesen. Es war ein heißer, trockener Sommertag. Mit einer Schnur, die damals jeder Junge in der Hosentasche hatte, und einem Stock versuchten sie nahe am Erlensee Fische zu angeln. Fachgerecht wurde dieses Provisorium ausgelegt und nun warteten beide. Warteten und warteten! Kein Fisch biss an! Für Profiangler ist warten kein Problem, aber für diese beiden wurde es langweilig. Also auf, zur weiteren Exkursion rund um den Erlensee. Eine tiefgrüne, üppige, undurchdringliche Pflanzenwelt umrahmte das kleine Gewässer und lockte zum langsamen Weitergehen. Die Neugier war so groß, dass sie den immer weicher werdenden, schwankenden Wiesenboden nicht beachteten. Plötzlich stand der Freund bis zu den Hüften im Sumpf, sank langsam tiefer, bis unter die Arme. Beide allein auf weiter Flur. Mühselig zog und zog der andere den langsam Versinkenden. Angst verlieh ihm Riesenkräfte und Schweißtropfen liefen, denn die Sonne brannte unbarmherzig. Mit ungeheurer Kraftanstrengung gelang es ihm, den nicht gerade Leichtgewichtigen aus dem Sumpf herauszuziehen. Ermattet und kraftlos lagen sie auf dem festen Wiesengrund. Angel und Fische waren vergessen. Die Mittagssonne trocknete beide. Aber sie trocknete so kräftig, dass die Schlammschicht zu einer festen Kruste wurde. So mussten sie durchs Dorf. Der eine verdreckt und der andere bis unter die Arme schlammverkrustet. Zu Hause wurde der Schlammige in der Zinkwanne eingeweicht, in der Wanne mühselig ausgezogen. Erst nach dem Abspritzen mit dem Schlauch war die natürliche Hautfarbe wieder zu erkennen. Mit dem Wasser aus der Wanne konnte der Garten gewässert und gedüngt werden.
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