Im Zusammenleben mit diesen vier Menschen wurden Spuren, die meine Kindheit hinterlassen hatte, aufgedeckt. Dazu kommt das große Beziehungsgeflecht in Verwandtschaft, Beruf und Kirchengemeinde. In alldem begegne ich nicht nur den anderen, sondern auch immer wieder mir selbst.
Erst wenn wir unserer Ursprungsfamilie weitgehend eigenständig gegenüberstehen, werden wir zu selbstbewussten und selbstbestimmten Menschen. Wir erleben sie als Schutz, als Begrenzung und immer wieder als Konfliktpotenzial. Jeder hat aus den Erfahrungen seiner Kindheit sein ganz eigenes Lebenshaus gebaut und selbstverständlich muss er auch darin leben.
Dieses Buch beschreibt das Baumaterial, das die Geschwisterkonstellation einer Person liefert. Mit diesem Material baut ein Mensch je nach dem ihm mitgegebenen Talent und Temperament sein Lebenshaus.
Dieses Buch gibt Ihnen die Möglichkeit, sich mit sich selbst unter dem Aspekt der Geschwisterkonstellation auseinanderzusetzen. Es ist auch interessant, die Entwicklung der eigenen Kinder aus diesem Blickwinkel zu sehen. Eine solche Betrachtungsweise kann zeigen: Eltern sind nicht an allem „schuld“; auch die Geschwister erziehen sich untereinander, allein schon durch die Position, in die sie hineingeboren werden.
Eltern sind nicht an allem „schuld“; auch die Geschwister erziehen sich untereinander, allein schon durch die Position, in die sie hineingeboren werden.
Wozu kann eine solche Selbstanalyse dienen? Wie kann ich dieses neu gewonnene Wissen über mich verwerten, sodass es gute Früchte trägt in meinem alltäglichen Leben und die Menschen, die mit mir leben, davon profitieren können?
Es ist in unserer Zeit wichtiger denn je, dass die Familie der Ort der Geborgenheit und die Zukunftswerkstatt unserer Gesellschaft ist. Ich bin überzeugt: Es ist ein lohnendes Unternehmen, wenn wir in dieser Keimzelle der eigenen Familie ansetzen und uns fragen: Wie kann ich mit meiner eigenen Prägung – und vielleicht trotz meiner eigenen Prägung – Familie so gestalten, dass aus ihr wiederum lebensfähige Menschen hervorgehen? Sie mögen unvollkommen, aber lebenstüchtig sein und das auch ihren Kindern weitergeben. Was macht solche Lebenstüchtigkeit aus?
Ich glaube an einen Gott, der uns zu seinem Ebenbild und Gegenüber geschaffen hat. Ich gehe davon aus, dass wir in unserem Menschsein Gott ähnlicher sind, als wir meinen. Wir nehmen in der Regel an, dass unsere Unvollkommenheit uns von ihm trennt. Ich bin überzeugt, dass uns weniger unsere Unvollkommenheit als unsere Überheblichkeit von ihm trennt. Wir sind überheblich, wenn wir Gott nicht anerkennen als den, der er ist, nämlich der Einzige, der unser Leben wirklich durchblickt und infolgedessen auch den Maßstab für dieses Leben geben darf. Wenn ich aber glaubend davon ausgehe, dass einzig Gott mein Leben in der Hand hält, dann ist es sinnvoll und ertragreich, mir Gedanken zu machen, wie ich mit der Prägung in meiner Familie so leben und umgehen kann, dass es für mich und die anderen ein Gewinn ist. Darin erfüllt sich Lebenstüchtigkeit im besten Sinn.
Nicht zuletzt soll das Buch auch Hilfestellungen zur Gestaltung des Familienlebens geben. Denn in jeder Familie herrscht eine eigene Atmosphäre, die von Eltern und Kindern geprägt wird. Wenn wir im Bild des Lebenshauses bleiben, ist das Miteinander in der Familie der Mörtel. Es fügt das Baumaterial, das die Geschwisterposition liefert, zusammen. Die Geborgenheit in einem tragenden Beziehungsgeflecht gibt einem Menschen die Stabilität, die ihn in der Auseinandersetzung mit sich und anderen lebenslang bestimmt.
Kapitel 1
Über die Bedeutung des
Familienverbandes für den Menschen
Die Neigung gibt den Freund,
es gibt der Vorteil den Gefährten.
Wohl dem, dem die Geburt den Bruder gab.
(Friedrich Schiller)
Wenn ein Baby kurz nach der Geburt seinen ersten Schrei ausstößt, sind seine Eltern dabei. Kurz danach lernt es auch seine älteren Geschwister kennen. Die ersten Menschen, die es wahrnimmt, sind Eltern und Geschwister. Sie gehören zu jedem Menschenleben dazu.
Kein Mensch kann sich die Familie aussuchen, in die er hineingeboren wird. Sie ist ein wesentlicher Faktor, der sein Charakterbild und seinen Lebensverlauf entscheidend beeinflusst.
Selbst Einzelkinder sind irgendwann einmal konfrontiert mit Geschwistern, nämlich dann, wenn es heißt: „Du bist wie Tante Erna!“ So spielt es für das Kind eine Rolle, dass die eigene Mutter eine Schwester hat, auch wenn es selbst ohne Geschwister aufwächst. Durch die Eltern ist es mit deren Geschwisterposition konfrontiert, die auch das Zusammensein mit den Eltern und damit auch sein Leben prägt. Kein Mensch kann sich die Familie aussuchen, in die er hineingeboren wird. Sie ist ein wesentlicher Faktor, der sein Charakterbild und seinen Lebensverlauf entscheidend beeinflusst.
Geschwisterverhältnisse: Beziehungen fürs Leben
Geschwister werden heute für viele Menschen wieder wichtiger, weil andere zwischenmenschliche Beziehungen allzu lustbetont und kurzlebig geworden sind. Man muss aufgrund der Arbeitsmarktlage öfter den Wohnort wechseln, sodass Freundschaften keine Zeit zum Wachsen haben. Wenn dann noch der Partner bloß als „Lebensabschnittsgefährte“ begriffen wird, gewinnen die gewachsenen Beziehungen der Ursprungsfamilie wieder an Bedeutung.
Deswegen sind Geschwister mehr als interessant, denn unabhängig von der Qualität der Geschwisterbeziehung haben die meisten Menschen bis ins hohe Alter Kontakt zu ihnen. Das Verhältnis zu den Geschwistern wird damit zur längsten Beziehung unseres Lebens und verdient als solche eine Menge Aufmerksamkeit.
Die Familienforschung legt ein großes Gewicht auf die Eltern-Kind-Beziehung. Welch bedeutende Rolle die Geschwister für die Entwicklung eines Kindes haben, ist dabei allzu häufig vernachlässigt worden. Schließlich sind es die Geschwister, die in erster Linie den Alltag miteinander verbringen. Sie spielen miteinander, helfen sich gegenseitig, trösten sich, und natürlich sind sie auch eifersüchtig aufeinander und streiten oft und verbissen. Dennoch halten sie im Ernstfall zusammen gegen die Übermacht der Eltern und die der ganzen Welt.
Geschwister haben durch ihre ständige Präsenz großen Einfluss aufeinander. Ihre oft ähnliche Körpergröße, Motorik, Mimik und Stimmlage macht sie füreinander zum Spiegelbild. Schon bei Kindern unter einem Jahr lässt sich beobachten, dass sie voller Interesse auf andere Kinder reagieren, mit ihnen Kontakt aufnehmen und sie berühren wollen und anders auf sie zugehen als auf Erwachsene. Manchmal können wir auch beobachten, dass sich ein Kleinkind, das weint, eher von einem Geschwisterkind als von Mutter oder Vater trösten lässt. Es kann passieren, dass ein Geschwisterkind den Eltern erklärt, was dem Kleineren fehlt.
Was wir in unserer ersten Familie lernen
Eltern sind der Dreh- und Angelpunkt im Leben eines Kindes. Die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken, das ist Sinn und Ziel der meisten Unternehmungen eines kleinen Kindes. Sobald es Geschwister bekommt, beginnt der Kampf um die elterliche Zuwendung. In der Familie erleben Geschwister erstmals Konkurrenz.
Die Angst, dass der andere von den Eltern besser behandelt oder die andere in irgendeiner Weise bevorzugt wird, erzeugt eifersüchtige Gerechtigkeitsfans und echte Neidhammel. Und immer dreht sich der Streit der Geschwister um den besseren Platz unter der elterlichen Sonne. Im Mittelalter war es vielleicht noch das größere Stück Brot, das diese Angst hervorrief, heute ist es das bessere Weihnachtsgeschenk des Bruders.
Jedes Kind entwickelt in diesem „Überlebenskampf“ seine eigene Strategie.
Weil Erstgeborene sich am Vorbild der Eltern orientieren, übernehmen sie die Rolle eines Erziehers für die jüngeren Geschwister. Die Erkenntnis, die Liebe der Eltern teilen zu müssen, schmerzt sie und macht sie reizbar. Eigenschaften wie Eifersucht, Rachegelüste, die Neigung zur Gewalttätigkeit, aber auch Disziplin und Verantwortungsbewusstsein zeichnen sie aus, während die später geborenen Kinder gezwungen sind, eine eigene Nische zu suchen, die ihrem Temperament und ihren Begabungen entspricht. Darum zeichnet sie eine Flexibilität aus, mit welcher die älteren Geschwister häufig nicht aufwarten können. Meist sind sie kreativ, friedlich und freundlich, genauso haben sie einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, der sie immer wieder in die Rebellion treibt oder sie zu sanften Widerständlern macht: Sanfte Widerständler tragen ihre Rebellion nicht nach außen, sondern gehen still, wenn es sein muss, auch gegen den Widerstand der Eltern und Geschwister ihren eigenen Weg.
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