6 Die Goetheanlage mit Malwida-von-Meysenbug-Schule und Herkules, 1933
Eine ähnliche Situation, nur in viel kleinerem Maßstab, finden wir wenig später am Gartenstadt-ähnlichen Flüsseviertel, am westlichen Ende des Werrawegs. Dort hielt eine dreieckige Fläche den Blick aus der Baunsbergstraße auf die Christuskirche frei und bildete eine Eingangssituation in das Flüsseviertel; zugleich öffnete sie den Werraweg zu einem weiten Panorama mit Blick auf Habichtswald, Herkules und Schloss Wilhelmshöhe. Panorama und Dreieck wurden in jüngster Zeit jedoch rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten geopfert… 24
Die Forderungen, bestimmte Flächen zur Erholung oder wegen ihrer Fernblicke und Aussichten, wegen ihrer natürlichen Schönheit und Stimmung freizuhalten und die Bebauung in bestimmten Grenzen zusammenzufassen, schloss Labes mit dem Fazit, dass der Sinn der neuen westlichen Gartenstädte somit deutlich zu erkennen sei: Der Ausbau zu einer hervorragend gesunden und schönen Wohn- und Wanderstadt, einer Stadt, in der sich nicht nur angenehm wohnen, sondern auch in unmittelbarer Nähe herrlich wandern und die Natur genießen läßt. Den leicht erreichbaren Habichtswald aber, der das ganze Wohngelände [dieser Gartenstädte] begleitet, bewahre man vor jeder weiteren Besiedlung, vor jeder die Natur beeinträchtigenden Veränderung überhaupt. Denn es wächst das Bedürfnis nach der unberührten und ungebrochenen Natur. Nicht Park und Schloß und Monument an sich dort oben sind Ziel und Sehnsucht der Menschen, sondern der unendlich große und tiefe Wald darum und die Abgeschiedenheit der Natur dahinter, in der sie eingebettet liegen. 25
Diese Gedanken spiegeln das grundsätzlich veränderte Verständnis von Städtebau und Natur wider, das sich im frühen 20. Jh. in den Gartenstädten und z. B. in der Wandervogelbewegung äußerte. Sie bestimmten auch den zeitgleich aufgestellten Grünflächenplan der Stadt Kassel, 26den Stier zusammen mit Labes erarbeitet hatte, und sie sind ebenso beim Wilhelmshöher Freibad wiederzufinden, das – nach ersten Vorplanungen 1930 – in den Jahren 1934/35 am oberen Ende eines ansteigenden Grünzugs errichtet wurde. 27Ernst Rothe (Leiter des städtischen Hochbauamts) und Stier hatten die Anlage so konzipiert, dass sie auf ein doppeltes Landschaftspanaroma bezogen ist: nach Nordosten ein weiter Fernblick über das alte, offene Wiesenland hinweg in das Kasseler Becken, und im Nordwesten ein einzigartiges Panorama mit Habichtswald, Schloss Wilhelmshöhe und Herkules. Bei der Eröffnung 1935 hob Stier ausdrücklich den besonderen Reiz dieser Aufgabe hervor, und in den Verwaltungsberichten der Stadt Kassel wird mehrfach der Landschaftsbezug betont und als ein wichtiger Grund für die Standortwahl des zweiten städtischen Freibads genannt – neben der guten Erreichbarkeit, der Lage inmitten eines Grünzuges, der Speisung durch Quellwasser sowie dem Verweis auf eine erfolgreiche Bohrung nach Solewasser; der Herkules spielte aber auch hier keine ausdrückliche Rolle mehr. Im Mittelpunkt standen vielmehr weite Fernsichten auf die das Kasseler Becken umgebenden Berge und Höhenzüge und reizvolle Nahsichten auf Habichtswald und Wilhelmshöher Park. 28
Lag im Habichtswald zur Zeit Landgraf Carls der Fokus des Erlebens bei den Besuchern noch auf Herkules und Wasserkünsten, war er unter Friedrich II. und erst recht unter Wilhelm IX. auf die neuen Garten- und Parkanlagen auch beiderseits der Mittelachse erweitert, so wurde er im frühen 20. Jh. auf den gesamten bewaldeten Höhenzug und seine Landschaftsausläufer ausgedehnt: Der Herkules war nur noch ein Bestandteil eines viel größeren Ganzen.
Auf den Landschaftsbezug nahmen städtische Auflagen und Bebauungspläne noch in den 1960er- und 70er-Jahren Rücksicht: So finden wir etwa auf der Südseite der Terrasse und im Gebiet Ochsenallee / Vor der Prinzenquelle / Am Juliusstein absichtlich nur eine eingeschossige Bebauung – oder vielmehr fanden, denn seit jüngster Zeit werden auch in solchen Gebieten zunehmend Aufstockungen und höhere Neubauten genehmigt. 29Aber auch die unverbauten Landschaftspanoramen sind vielfach durch hohe Vegetation gestört, wie z. B. am Freibad Wilhelmshöhe. Umso mehr bleibt zu wünschen, dass die einzigartige landschaftliche Lage Kassels, mit dem Herkules als markantem, weithin sichtbaren Wahrzeichen, künftig wieder angemessen von den verschiedenen Planungsdisziplinen beachtet werde.
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1Zu Weißenstein/Wilhelmshöhe vgl.: Paul HEIDELBACH, Die Geschichte der Wilhelmshöhe, Leipzig 1909 (ND Vellmar 2005); Horst BECKER, Michael KARKOSCH, Bernd MODROW (Hg.): Park Wilhelmshöhe, Kassel. Parkpflegewerk (Monographien der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten 8), Regensburg 2007.
2Vgl. Johann Friedrich Armand von Uffenbach’s Tagbuch einer Spazierfarth […] (1728), hg. und eingeleitet von Max ARNIM, Göttingen 1928, S. 50f., S. 64; Fr[ederik] WEILBACH [Hg.], Kassel im Jahre 1729, in: Hessenland 36 (1922), Heft 10, S. 138–140, hier S. 158.
3Vgl. Alois HOLTMEYER, Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel, Bd. VI, Kreis Cassel-Stadt, Marburg 1923, S. 56, S. 129 (zum Weißensteiner Tor, später Königstor); Stadtplan 1781 (F. W. Selig / Stich: G. W. Weise), ebd., Tafel 15.
4Zur Bebauung vgl. HOLTMEYER, Cassel-Stadt (wie Anm. 3), S. 56, S. 758–760; MHK, Graphische Sammlung (Handzeichnungen): Lageplan zwischen Wehlheiden und Rothenditmold 1797 (Reproduktion: Foto Marburg, LA 3687/7); Stadtpläne Kassels um 1810 u. 1819, Inv.-Nr. GS 21050 u. GS 19111 (Bestandskatalog Architekturzeichnungen MHK, http://architekturzeichnungen.museum-kassel.de/, Museumslandschaft Hessen Kassel 2004/2005/2007, Nr. 1.1.1.2 u. 1.1.1.3).
5Vgl. Christian PRESCHE, Die Knallhütte bei Rengershausen – das Elternhaus der Dorothea Viehmann […], in: Holger EHRHARDT (Hg.), Dorothea Viehmann (Die Region trifft – die Region erinnert sich), Kassel 2012, S. 108–141, hier S. 115–117.
6Zur Planung Simon Louis du Rys für den Mittelbau (nach dem Muster der Seitenflügel) vgl. Hans-Christoph DITTSCHEID, Kassel-Wilhelmshöhe und die Krise des Schloßbaues am Ende des Ancien Régime, Worms, S. 107–115. Die Entscheidung Wilhelms IX. gegen einen Mittelbau fiel 1791, als der Abbruch des bisherigen Hauptflügels den durchgehenden Blick freigab.
7Vgl. ebd., S. 80–117; Best.-Kat. MHK (wie Anm. 4), Nr. 2.3.4 und 2.3.8.
8Vgl. Christian PRESCHE, Die Kuppel von Schloß Wilhelmshöhe […], in: architectura 30 (2000), S. 141–173, hier S. 144 und Abb. 4f.; DITTSCHEID, Wilhelmshöhe (wie Anm. 6), Anm. 861 und K 98f. mit Abb. 228f., 232f. – Nicht zuletzt durch seine Mutter, eine englische Prinzessin, war Wilhelm IX. eng mit der engl. Kultur und ihren neusten Strömungen vertraut.
9Vgl. PRESCHE, Kuppel (wie Anm. 8), S. 144–150. In nur 3–4 Monaten entwarf Jussow mind. 11 Projekte, die schrittweise zum ursprünglich geplanten Mittelbau zurückführten – darunter einen Triumphbogen, der Herkules, Kaskaden und Große Fontäne gleichsam gerahmt hätte, und eine künstliche Ruine, die die gesamte Mitte wiederum der Natur geöffnet hätte. Zu den Umständen, die schließlich zum Ausführungsentwurf führten, und zu seiner Realisierung vgl. ebd., S. 150–155; vgl. DITTSCHEID, Wilhelmshöhe (wie Anm. 6), S. 131–158.
10Dies betrifft bes. die Verbindung aus Freitreppe, Portikus und römischer Flachkuppel, vgl. auch Jussows Entwurf für ein Palais des Freiherrn von Veltheim: Best.-Kat. MHK (wie Anm. 4), Nr. 4.12.2; von Veltheim war unter anderem Direktor des Kasseler Museum Fridericianum, und der Antikenbezug ist hier auf die Spitze getrieben: altägyptische Löwen (vgl. ebd., Nr. 8.17.16) an der Freitreppe, dorischer (also griechischer) Portikus, römische Flachkuppel. – Zudem nahm in Wilhelmshöhe die Bibliothek einen Großteil der Parkseite im 2. OG ein.
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