Minister Goebbels wollte sie daraufhin aus der Reichsfilmkammer ausschließen, was einem Arbeitsverbot gleichkam. Ihre Popularität konnte das verhindern. Goebbels begann nun mit einer Hetzjagd, mit Schikanen. Renate Müller war nicht mehr frei, weder in ihren beruflichen Entscheidungen, noch in ihren privaten Entschlüssen. Das Einzige, was sie sich in ihren letzten - von der Partei kontrollierten - Lebensjahren noch bewahren konnte, waren die Freiheit der Gedanken und der Gefühle.
Diese Hetzjagd endete am 7. Oktober 1937 - mit ihrem Tod. Mit diesem frühzeitigen Ende der erst Einunddreißigjährigen, begann die Legende Renate Müller zu leben, und wurde im Laufe der Jahre zum Symbol, zur Metapher.
Ich möchte in diesem Buch Lebensstationen dieser hochsensiblen und couragierten Künstlerin skizzieren und die verblaßte Karriere der Renate Müller erhellen, die im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten ist. Es ist an der Zeit, diesen beliebten Filmstar der dreißiger Jahre, der Millionen Menschen in Europa faszinierte und selber in politisch düsterer Zeit an der menschenverachtenden Politik der Nazis zerbrach, ins Bewußtsein der heutigen Kinogänger zurückzuholen.
Uwe Klöckner-Draga Berlin, im Herbst 2005
I.
Münchner Kindl „Renate - Die Wiedergeborene“
Die bayerische Residenz- und Landeshauptstadt München hatte bereits in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende an der typischen Großstadtentwicklung dieser Zeit partizipiert und sich zu einer Metropole für den gesamten süddeutschen Raum entwickelt. Die Einwohnerzahl stieg innerhalb eines kurzen Zeitraumes von knapp 170.000 im Jahre 1871 auf 645.000 im Jahre 1914. Das hatte gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur und das gesellschaftliche Leben. Trotzdem konnten die Bewohner eine „kleinstädtische Atmosphäre“ in ihrer Stadt bewahren, in der das Festhalten an Traditionen zum Bedürfnis wurde. Vor allem architektonisch hatte München einiges zu bieten, wobei weniger die bayerischen Traditionen gepflegt wurden als vielmehr bedeutende Baustile früherer Epochen und anderer Länder kopiert wurden. Das verdanken wir König Ludwig I., der aus München eine Stadt schuf „die Teutschland so zur Ehre gereichen soll, dass keiner Teutschland kennt, wenn er nicht München gesehen hat .“ Künstler, Maler und Architekten lernten sie schätzen und lieben. Nicht allein deshalb, weil die Schwabinger Bohéme, die heute in München ebenso zur Legende geworden ist wie die Bohéme anderer Städte, sich zumeist aus Malern zusammensetzte, die so schöne Motive anderswo nicht vor den Haustoren fanden, sondern auch aus der Tatsache heraus, dass München architektonisch zu den reizvollsten deutschen Städten zählte und heute noch zählt.
Auch für die Dichter galt München lange Zeit als Dorado; und die Förderung, welche die Münchener Dichterschule durch fürstliche Mäzene erhielt, hat viel dazu beigetragen, den Ruf Münchens als Kunststadt zu festigen. Das Theater bekam vor dem Ersten Weltkrieg nicht die gleiche Förderung wie die Oper. Die Sprechbühne wird erst in den Nachkriegsjahren zur Geltung kommen. Aber die Zahl der späteren Bühnen- und Filmkünstler, die am Anfang des 20. Jahrhunderts im Schatten der Frauenkirche geboren wurden ist groß: Stummfilmstar Lee Parry gehört dazu, ebenso Curd Jürgens, Beppo Brem, Gina Falkenberg, Rudolf Fernau, Heli Finkenzeller, Alexander Golling, Joe Stöckel, Richard Häussler, Fritz Kampers, Liesl Karlstadt, Karl Valentin (in der Vorstadt Au), Carola Neher, Susi Nicoletti, Leo Peukert, Kurt von Ruffin, Agnes Straub und Renate Müller .
* * *
München, im Frühjahr 1906:
Dr. Karl-Eugen Müller, zurzeit Theaterkritiker einer Münchner Zeitung, sitzt in einer Wiederaufführung von Gerhart Hauptmanns Trauerspiel Florian Geyer und soll sich mit der Abfassung einer Theaterkritik beschäftigen. Unkonzentriert und kribblig verfolgt er das Stück auf der Bühne, denn bei seiner Frau Mariquita haben die Wehen eingesetzt. Doch der erwartete Sohn - natürlich muß es ein Sohn sein - läßt sich Zeit bis zum Morgengrauen und entpuppt sich an diesem regnerischen Vorfrühlingstag als stämmiges Mädchen.
Renate Maria Müller wird am Donnerstag, dem 26. April 1906 (im Zeichen des Stiers) im Münchner Stadtteil Schwabing geboren. Die Eltern haben beide großes Interesse für künstlerische Dinge. Die Mutter, Mariquita Müller, geborene Frederich, als Deutsche in Südamerika geboren, ist eine begabte Malerin und der Vater Karl-Eugen, ist Historiker und Altphilologe. Wer an Vorbestimmungen glaubt, der kann sagen, dass der kleinen Renate der Weg zur Bühne bereits an der Wiege geebnet wurde.
Renate ist ein fröhliches Baby und wird in der Familie „Rena“ gerufen. Die begeisterte Großmutter Emma Müller erzählt: „In Grünwald im Isartal lag auf einer weichen Felldecke mitten in einer grünen Wiese der kleine sechs Wochen alte Nackedei und strampelte. Dazu krähte Renatchen aus vollen Lungen. Sie fand das Leben offenbar wunderschön und lachte und lachte. Nicht so ein Kinderlächeln, sondern richtig lautes helles Lachen, dass jeder, der es sah und hörte, einfach angesteckt wurde. Und das Bild werde ich nie vergessen: wie mein Himmelsfuchs auf der grünen Wiese liegt und die ganze Familie drum herum steht und Tränen lacht.“ 1
Das Münchner Kindl im Alter von drei Jahren.
Vier Generationen: Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Renate, 1910.
Familienfoto aus dem Jahre 1910:
Vater Dr. Karl-Eugen Müller mit Renate und Mutter Mariquita mit Gabriele.
Renate verlebt mit ihrer 2 Jahre jüngeren Schwester Gabriele, mit der sie Zeit ihres Lebens verbunden bleibt, dem Kindermädchen Agathe (von den Kindern „Adaate“ genannt) und einigen großen Hunden glückliche Jugendjahre in der bayerischen Hauptstadt, oder genauer gesagt, in der Künstlerkolonie in Emmering. Dort, fünfundzwanzig Kilometer von München entfernt, haben sich die Eltern ein Landhaus mit einem riesigen Garten am Ufer der Ammer, einem Nebenfluß der Isar, gebaut. Als Kind soll die kleine Renate ein frecher, unfreiwillig komischer Fratz gewesen sein, kugelrund und alles andere als hübsch.
Sie wächst in einem liberal orientierten Elternhaus auf, das früh ihre Selbstsicherheit fördert. Diese Selbstsicherheit wird erst in den Jahren vor ihrem Tod sukzessive weniger.
Die kleine Renate kann drollig sein und steckt dann alle mit ihrem Lachen an. Mal ungebärdig, mal schrecklich lustig, dann wieder völlig dickköpfig bringt ihre Eltern, kaum dass sie sprechen kann, mit ihren tausend Fragen oft in Verlegenheit. Selbst wildfremde Leute, z. B. in der Straßenbahn, spricht sie an: „Onkel, warum hast du so gräßlich rote Haare?“ Oder: Renate geht mit den Eltern bei strahlendem Sonnenschein in München spazieren.
Plötzlich will sie einen Regenschirm aufspannen und ist von diesem Vorhaben nicht mehr abzubringen. Die Eltern versuchen es mit Zureden, Verbot und Strenge - nichts hilft. „Ich will, ich will, ich will!!!“ Der Dickkopf wird stärker, Renate setzt sich auf das Straßenpflaster und ist nicht mehr zu bewegen, auch nur noch einen Schritt weiterzugehen. Karl-Eugen muß sich seine Tochter schließlich unter den Arm klemmen und sie nach Hause tragen.
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