»Das nicht, aber sie haben mich strafversetzt nach Oppeln.«
Gontard glaubte, den Grund zu kennen. »Weil Sie wieder einmal etwas in Gazetten veröffentlicht haben, die von Dr. Wiesenburg als regierungsfeindlich eingestuft werden?«
»Genau so ist es«, antwortete der Mann, der zwanzig Jahre später Berliner Oberbürgermeister werden sollte.
»Seien Sie froh, dass es nur Oberschlesien ist!«, sagte Gontard. »Ovid haben sie ans Schwarze Meer verbannt. Und tragen Sie es wie einen Orden!«
Sie umarmten sich kurz, dann eilte Seydel nach Hause, seine Koffer zu packen. Gontard trat ins Stehely ein und setzte sich an einen Zweiertisch in der rechten hinteren Ecke des Lesecafés, von wo aus er am besten die anderen Gäste im Auge hatte, und wartete auf seinen Freund, den Arzt Friedrich Kußmaul, der vor Jahren aus der Nähe von Karlsruhe nach Berlin gekommen war. Doch der Gute ließ noch auf sich warten, so dass Gontard Zeit genug hatte, dem Gespräch am Nebentisch zu lauschen, an dem Christian Friedrich Scherenberg und Bernhard von Lepel saßen und über den »Tunnel über der Spree« diskutierten. Scherenberg kam aus Magdeburg, wo er sowohl als Schauspieler wie auch als Ehemann gescheitert war, und hielt sich und seine Kinder mit Abschreibearbeiten und Hauslehrertätigkeiten nur mühsam über Wasser. Er galt aber im literarischen Verein als hochbegabt, schrieb Gedichte und plante ein großes vaterländisches Versepos über die Schlachten bei Ligny und Belle-Alliance.
Bernhard von Lepel war aus Meppen nach Berlin gekommen und hier in das Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiment No. 2 eingetreten, verstand sich aber mehr als Schriftsteller denn als Offizier. Bernhard von Lepel war ein heiterer Mensch. »Stellen Sie sich vor, Scherenberg, ich komme heute Morgen an einer Schule vorbei, und da singen sie gerade Wenn alle Brünnlein fließen. In diesem Augenblick fällt mir wieder ein, dass ich Ihnen ja den Theodor Fontane für den ›Tunnel‹ empfehlen wollte.«
»Wer ist Theodor Fontane?«, fragte Scherenberg.
»Ein Apothekergehilfe aus Neuruppin, dessen Gedichte ich bemerkenswert finde. Im letzten Jahr ist er an Typhus erkrankt und kuriert sich jetzt im Oderbruch aus, in Letschin, wo sein Vater eine Apotheke besitzt.«
»Warten wir mal ab, bis er wieder in Berlin ist, dann können wir ihm ja eine Einladung ins Haus schicken.«
In diesem Augenblick kam Friedrich Kußmaul durch die Tür, und Gontard stand auf und winkte. Sie begrüßten sich mit einer angedeuteten Umarmung.
»Wie geht es dir?«, war Gontards erste Frage, als sie sich gesetzt hatten.
Kußmaul stöhnte leise auf. »Wie soll es einem Menschen gehen, dessen jüngerer Bruder als Genie gesehen wird? In Anlehnung an Hoffmann von Fallersleben könnte man sagen: Adolf, Adolf über alles.«
Die Kußmauls waren eine alte Medizinerfamilie aus dem Badischen. Vater und Großvater hatten als Physikatsärzte gearbeitet, und Friedrich wie Adolf hatten von Kind auf den Wunsch gehabt, in deren Fußstapfen zu treten.
»Adolf hat doch gerade erst sein Studium in Heidelberg begonnen«, sagte Gontard.
»Ja, aber er ist jetzt schon ungeheuer vielseitig, forscht über die Farbenerscheinungen im Grunde des menschlichen Auges und schreibt gemütvolle Verse.«
Gontard musste grinsen. »Ich kenne noch jemanden, der mit seiner ersten Profession nicht recht zufrieden ist und noch eine zweite braucht. Artillerie-Offizier und Lehrer sein reicht mir nicht, ich muss auch noch auf Verbrecherjagd gehen.«
Kußmaul winkte ab. »Ich weiß. Schließlich habe ich am Vormittag die Wunde versorgt, die das Messer des Einbrechers Franz Karbusch auf deiner Wange hinterlassen hat.«
Um von diesem Thema abzulenken, zeigte Gontard auf seine neue Weste. »Gerade eben vom Schneidermeister Hoppe abgeholt. Und diesen Knopf hier hat er persönlich angenäht, weil sein Geselle Ludwig sich ja im Thiergarten aufgehängt hat.«
»Als ob ich das nicht wüsste!«, rief Kußmaul. »Mich haben sie schließlich gerufen, um seinen Tod festzustellen.«
»Eine komische Angelegenheit«, sagte Gontard. »Hoppe und seine Braut schwören, dass er nie daran gedacht hat, Hand an sich zu legen, aber es existiert ein Abschiedsbrief, in dem von einer schweren Schuld die Rede ist, die er auf sich geladen habe.«
»Und niemand weiß, worin diese bestehen könnte?«, fragte Kußmaul.
»Nein.«
»Der Brief ist aber echt und nicht etwa gefälscht?«
»Alle sagen, es sei seine Handschrift und Tinte, Feder und Papier stammten ohne jeden Zweifel aus dem Schrank Hoppes.«
Sie konnten das Thema Dölau nicht weiter erörtern, denn in diesem Augenblick trat ein Herr an ihren Tisch, zog seinen dunkelgrauen Zylinder und fragte mit ausgesuchter Höflichkeit, ob er an ihrem Tisch Platz nehmen dürfe, denn anderswo sei kein freier Stuhl mehr zu finden.
»Aber selbstverständlich, Herr Kahlbaum, Sie dürfen sich jederzeit zu uns gesellen.«
Zu ihnen setzte sich also Magnus Kahlbaum, jener Autor, dessen Auslassungen über die Berliner Rauchergemeinde Gontard vorhin gelesen und nicht gerade als genial bewertet hatte.
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