Wie sich das Verständnis dieses kritischen Moments auffrischen lässt, damit es in den verwandelten Verhältnissen erneut Fuß fassen kann – darum geht es in den folgenden Versuchen. Sie dienen dem Anspruch einer philosophisch reflektierten, dabei von der »sinnlich menschlichen Tätigkeit, Praxis« (Marx, ThF 3/5) und den gesellschaftlichen Verhältnissen und Rahmenbedingungen derselben ausgehenden begrifflichen Annäherung ans Kulturelle. Von der Praxis auszugehen verlangt die Aufsprengung des Kulturbegriffs nach dem Vorbild von Spinozas Unterscheidung der je fertig vorfindlichen Natur von der momentan sich bildenden (Ethik I, LS XIX, Anm.). Daher werden wir bereits im Frageansatz zwischen dem praktischen Quellmoment der Kultur und ihren etablierten Formen unterscheiden, in denen sie von gesellschaftlichen Kräften kontrovers beansprucht und von politisch-ökonomischen Mächten und ihren Ideologien umfangen und partiell durchdrungen ist. Was Freud von geschichtlichen Gestalten sagt, gilt allemal für die resultierende Kultur, wie sie empirisch begegnet, und zwar sowohl in ihrem herrschenden Hauptstrom als auch in den subkulturellen Neben- und Gegenströmungen: Alles »scheint […] überdeterminiert zu sein, stellt sich als die Wirkung mehrerer konvergierender Ursachen heraus« (S 9, 554). Nicht anders hat Stuart Hall das Paradigma der frühen Kulturforschung bestimmt. 7Das Methodenarsenal ist seither reichhaltiger geworden, doch hinter das Paradigma der Überdeterminierung fallen Kulturforschung und Kulturpolitik, wie sich im theoretischen Handgemenge erweisen wird, nur um den Preis zurück, Akteure der Ideologie und Anhängsel der Ökonomie zu werden.
Wenn nun aber die ›Kultur‹ ein Feld der Interferenz und des Ringens heterogener Mächte ist, dann zieht sich das »Interesse der Freiheit« (Hegel) in die Frage zusammen, was denn nun das originär Kulturelle an der Kultur ist. Unser Standpunkt kann mithin nicht der »Standpunkt der fertigen Phänomene« (Marx) sein. Das bringt uns in Konflikt mit Positionen, die ihre Kategorien unkritisch den herrschenden Verhältnissen entnehmen und das Überdeterminierte en bloc für die kulturelle Sache selbst halten.
Es bleibt nicht bei diesem Zusammenstoß. Indem wir uns anschicken, an dem, was man ›Kultur‹ nennt, das Kulturelle vom Nichtkulturellen zu unterscheiden, stoßen wir ferner mit der von der Kulturpolitik bestärkten Alltagsvorstellung zusammen, Kultur sei ein gesellschaftlicher Bereich, abgegrenzt von anderen Bereichen, die mithin als Nichtkultur aufzufassen wären. Nun stimmen aber im Gegensatz zu dieser Bereichsvorstellung von Kultur die meisten, die sich kulturwissenschaftlich betätigen, ungeachtet ihrer sonstigen Meinungsunterschiede darin überein, dass sie unter Kultur einen Aspekt oder eine Dimension verstehen, die all jenen abgegrenzten Bereichen als etwas alle Abgrenzungen Durchquerendes zueigen ist, sei es auch in unterschiedlicher Weise und Gewichtung. In der Tat beschränkt sich das Kulturelle nicht auf den ›Kulturbereich‹, und noch weniger erschöpft sich der ›Kulturbereich‹ im Kulturellen.
Nach dem Kulturellen an der Kultur zu fragen öffnet den Blick dafür, dass in dieser andere Mächte mitwirken: Die Kultur ist auch ideologisch und vor allem kommerziell durchdrungen, während das Kulturelle nicht nur im ›Kulturbereich‹, sondern auch in der Ökonomie und der Ideologie, also in der ›Nichtkultur‹ am Werke ist, sei es auch als untergeordnetes Moment. Zumal der Markt – mit der Warenästhetik und den Ästhetikwaren der Kulturindustrie – und auf andere Weise der in Ideologie eingehüllte Staat mit seiner Kulturpolitik wirken als je nach Kräfteverhältnissen mehr oder weniger dominante Mächte auf dem Feld der ›Kultur‹ mit.
Sich allein kann kein Mensch leben,
wenn er auch wollte.
Herder 8
Der produktiven Bildungsmacht des Kulturellen, die wie ein utopischer Funke am Grunde der menschlichen Realität wirkt, stellen alle gesellschaftlichen Mächte nach. Indem sie immer wieder erstarrt und sich an ›die Kultur‹ verliert, wird sie von den herrschenden Mächten assimiliert. Letzteres hat keiner so klar gesehen wie Walter Benjamin. Die sogenannten »Kulturgüter« begriff er als die Beute, die, »wie das immer so üblich war«, in dem Triumphzug mitgeführt wird, der, als »Erben aller, die je gesiegt haben […], die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen« (Geschichtsphil. Thesen, VII).
Was zunächst wie ein Befreiungsheld erschien, muss also selbst erst befreit werden. Doch es ist nicht so, als würde es bloß darauf warten. Es ist kompromittiert durch seine absolute Plastizität im Dienste eines Selbst, das sich als Zweck setzt.
Im Folgenden geht es unter immer anderen Aspekten um Versuche, das originär kulturelle Moment freizulegen und der Umarmung durch Ideologie und Unterhaltungsgeschäft zu entwinden. Die falsche Positivität der ›Kultur‹ soll aufgesprengt werden. In dem Maße, in dem es gelingt, der in jedem Individuum und potenziert in den Sozialen Bewegungen lebendigen Lust auf kulturelle Autonomie Begriffswerkzeuge zur Verfügung zu stellen und zugleich dazu beizutragen, das Ringen um kulturelle Hegemonie nicht zur Hegemonisierung des Kulturellen durch die Politik werden zu lassen, wird diese Schrift ihren Zweck erfüllt haben.
Nach der Theorie des Ideologischen und der Kritik der Warenästhetik schließt der Autor mit dem vorliegenden Buch, das nach der Interferenz dieser Mächte mit dem Kulturellen in der Spannung von Unterwerfung und Widerstand fragt, seine Trilogie zur zeitgenössischen Kultur ab. Einige der Kapitel entstammen der Zeit der Krise des Fordismus und muten die ›Übersetzung‹ in zeitgenössische Materialien und Frontstellungen zu. Im Ringen mit dem sowjetisch geprägten Marxismus-Leninismus ging es damals unter anderem darum, eine neu an Marx, Brecht und die »Linie Luxemburg-Gramsci« (Peter Weiss) anknüpfende geschichtsmaterialistische Kulturauffassung und emanzipatorische Politik des Kulturellen auszubilden. Andere Kapitel tragen die Spuren der Periode des Übergangs zu dem, was inzwischen als transnationaler Hightech-Kapitalismus unseren Alltag bestimmt. Diese älteren Texte sind überarbeitet und in Teilen umgeschrieben. Dass die Wurzeln der vorliegenden Schrift und zumal ihres Leitbegriffs mehr als dreißig Jahre zurückreichen, situiert sie am Gegenpol zu jener beschleunigten Zirkulations- und Veraltungszeit von Kulturthemen, in der eine »regelkreisähnliche Schließung« von Medienkultur und Wissenschaftskultur zum Ausdruck kommt (Lindner 2000, 98). Kein ›Heute neu!‹ bestimmt den Tenor, sondern der Versuch, der emanzipatorischen Seite im Ringen um kulturelle Hegemonie und ihrer Politik des Kulturellen und politischen Kultur zuzuarbeiten. Die aus zwei Jahrzehnten stammenden Texte zur Konzeption der Volksuni zeigen diese als Praxisfeld und spiegeln zugleich den epochalen Übergang jener Jahre.
Danksagung
Eine große Hilfe waren mir die Einwendungen und Anregungen von Thomas Barfuss, Frigga Haug, Peter Jehle und Bernd Jürgen Warneken. Jan Loheit, der das ganze Buch lektoriert und die Register erstellt hat, Ingo Lauggas und Kamil Uludag unterstützten mich darüber hinaus bei der Materialbeschaffung. Daniela Hammer-Tugendhat und Ivo Hammer haben mir mit Ratschlägen zum Holbein-Exkurs geholfen. Martin Grundmann hat mit Geduld und Sorgfalt den Umschlag und die Typographie gestaltet. Ihnen allen gilt mein Dank.
1Der Widerspruch kommt nur metaphorisch verkannt vor: In Herders »Briefen zur Beförderung der Humanität« werden Fähigkeiten und Kräfte eines Menschen allegorisch als sein »Kapital« bezeichnet und die Früchte ihres Gebrauchs als dessen »Zinsen«, die nach seinem Tode der Gattung zuwachsen, in der immer aufs Neue »junge, rüstige Menschen […] mit diesen Gütern forthandeln« (Brief 25.8-9).
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