Die gemeinsamen Elemente fasste Michael Harner als »Core Shamanism«, zu Deutsch »Kernschamanismus«, zusammen.
Schamanen gibt es bei allen Stammesvölkern der Welt: bei den Eskimos ebenso wie bei den Indianern, in Schwarzafrika, Ozeanien und Australien, in ganz Asien, Nord- und Südosteuropa sowie bei der japanischen Urbevölkerung, den Ainu.
Die Foundation for Shamanic Studies
Harner leitet heute die bedeutende, international wirkende Foundation for Shamanic Studies, die u. a. von der Rockefeller- Stiftung unterstützt wird. In Zusammenarbeit mit der berühmten Moskauer Lomonossow-Universität brachte sie wichtige Forschungsprojekte mit Stammesschamanen in der Mongolei und in Sibirien in Gang. Harner und zahlreiche seiner Schüler unterrichten den von stammesspezifischen Vorstellungen und Ritualen weitgehend befreiten Schamanismus in vielen Teilen der Welt.
Der schamanische Bewusstseinszustand
Um uns dem Phänomen des schamanischen Bewusstseinszustands zu nähern, eignet sich ein Beispiel aus der modernen Alltagswelt: die so genannte Autobahnhypnose.
In diesem Zusammenhang berichten die Akten der ADAC-Verkehrspsychologen in einem Fall von einem Autofahrer, der abends auf der kaum befahrenen Autobahn ohne ersichtlichen Grund plötzlich eine Vollbremsung vollführte und damit einen schweren Verkehrsunfall verursachte. Bei der folgenden Gerichtsverhandlung beteuerte er, vor seinem Wagen sei eine Kuh quer über die Fahrbahn gelaufen. Hätte er nicht scharf gebremst, wäre er unvermeidlich mit ihr zusammengestoßen. Sein Gegner bezeichnete das als bizarre Schutzbehauptung. Von einer Kuh sei weit und breit nichts zu sehen gewesen.
Dennoch glaubte der Verkehrsrichter, gestützt auf die Begründung der Experten, den Beteuerungen des Angeklagten. Verkehrspsychologen sind solche Fälle längst nicht mehr neu.
Im Gehirn des Autofahrers können besondere Sinneseindrücke einen tranceartigen Zustand hervorrufen, für den allerdings der Begriff »Hypnose« bei weitem übertrieben ist. Schließlich kann der Fahrer sein Auto noch ganz bewusst lenken.
Ein rätselhaftes Phänomen
Ein ähnlicher Unfall ereignete sich, weil ein Autofahrer bei Einbruch der Dämmerung drei Elefanten die Autobahn überqueren sah, die selbstverständlich nur in seiner Vorstellung existierten. Der Mann am Steuer ging davon aus, die Tiere seien aus einem Wanderzirkus in der Nähe ausgebrochen.
Noch spektakulärer mutet in diesem Zusammenhang die Aussage eines Fahrers an, vor ihm wäre, etwa einen Meter über dem Boden, ein Haus über die Autobahn geschwebt. Gemeinsam war allen Fahrern, dass sie weder übermüdet am Steuer saßen, noch alkoholisiert waren oder unter Drogeneinfluss standen.
Verkehrspsychologen erklären die Autobahnhypnose so: Der Fahrer ist entspannt und in nicht allzu hoher Geschwindigkeit auf fast freier Strecke unterwegs. Um sich die Fahrt im Zwielicht zu erleichtern, nimmt er den unterbrochenen weißen Trennstreifen zwischen rechter und linker Fahrspur »zwischen seine Beine«. Die Scheinwerfer strahlen diesen an, was einen rhythmischen Lichtwechsel zwischen hell und dunkel hervorruft.
Im Gehirn des Autofahrers, der einer Autobahnhypnose unterliegt, spielt sich etwas im Grunde Alltägliches ab. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass unser Gehirn ständig elektromagnetische Wellen erzeugt, so genannte Hirnströme. Ihre Frequenz und Kurvenform, die man in einem Elektroenzephalogramm (EEG) sichtbar machen kann, bilden die Arbeit des Gehirns ab. So verursacht angestrengtes Rechnen beispielsweise völlig andersartige Kurven als körperliche Arbeit, Tiefschlaf andere als Traumschlaf, Freude andere als Hass, entspannte Ruhe andere als tiefe Meditation. Ein erfahrener Gehirnneurologe kann allein aus dem EEG ziemlich genau darauf schließen, mit was ein Mensch gerade beschäftigt war oder was er fühlte, als die Kurven aufgezeichnet wurden.
Auch der Hautwiderstand ist eine Größe, die je nach Gemütsverfassung variiert. Mikroelektronische Messungen haben ergeben, dass der Hautwiderstand bei tiefer Entspannung stark ansteigt, bei schamanischer Arbeit aber auch sinken kann.
Wie eine Trance herbeigeführt wird
Eine ganz bestimmte Kurvenform ist charakteristisch für Trancezustände, wie sie etwa bei einer Zen-Meditation oder auch im schamanischen Bewusstseinszustand auftreten. Sie bildet sich in einem EEG mit einer fast reinen Sinusschwingung in einer Frequenz von etwa drei bis sieben Hertz ab. Und genau diese monotone Schwingung wird dem Gehirn auch durch die oben beschriebenen Lichtreize zugeführt, die eine Autobahnhypnose auslösen können. Unvermittelt und vom Fahrer meist unbemerkt passen sich seine Gehirnströme diesem äußeren Einfluss an. Der Fachmann spricht bei diesem Anpassungsprozess davon, dass das Gehirn »getriggert« wird. Auf diese Weise gerät man in Trance. Dieser Prozess kann allerdings nur einsetzen, wenn man zuvor schon relativ entspannt war, sich das Gehirn bereitwillig von außen führen lässt und keine anderen, wichtigeren Aufgaben zu erfüllen hat.
Denn wer beim Autofahren gerade an die bevorstehende Steuerabrechnung oder den Zahnarzttermin am kommenden Tag denkt, der fährt zwar unkonzentriert und bringt sich unter Umständen dadurch in Gefahr. Kühe, Elefanten oder vorbei schwebende Häuser werden ihm auf seiner Fahrt jedoch sicher nicht begegnen. Um das Risiko einer ungewollten Autobahnhypnose zu vermeiden, gibt es einen sehr wirkungsvollen Ratschlag. Zählen Sie in Gedanken von 1000 rückwärts, und zwar, um Ihr Gehirn zu fordern, in Dreier- oder gar Siebenerschritten, also: 1000 - 993 - 986 - 979 - 972 ...
Der Bogen von unserem Beispiel der Autobahnhypnose hin zum Bewusstseinszustand des Schamanismus scheint weit gespannt zu sein. Und doch handelt es sich dabei tatsächlich um ein nahezu deckungsgleiches Phänomen, wenn auch in unkontrollierter und deshalb schädlicher Weise. Das Beispiel verdeutlicht eindrucksvoll die wesentliche Technik, um einen Trancezustand herbeizuführen: die Anwendung eines monotonen Rhythmus von etwa drei bis sieben Hertz. Die Schamanen bedienen sich dazu allerdings nicht optischer, sondern akustischer Reize. Das Hilfsmittel oder »Vehikel« dafür ist die Schamanentrommel.
Ich nenne sie Vehikel, weil viele Schamanen ihre Trommel so oder ähnlich bezeichnen. Die Trommel ist ihr Fahrzeug in andere Realitätsebenen. Harner spricht in diesem Zusammenhang zeitgemäß von einem Zug, Stammesschamanen in den USA oder in Asien nennen ihre Trommel ihr Reitpferd, ihren gesattelten Hirsch, ihr Rentier. Denn der Rhythmus der Trommel ist es, der sie mit sich fortträgt.
Nicht von ungefähr haben bis in die sechziger Jahre Ethnologen die schamanische Trance, die oft von rhythmischen Schritten und stampfenden Tänzen begleitet ist, als Ekstase bezeichnet.
Ein höchst wirksames »Vehikel«
Es gibt zu diesem Thema wissenschaftliche Untersuchungen mit erstaunlichen Ergebnissen: Eine monoton drei- bis siebenmal pro Sekunde - das entspricht dem Rhythmus von drei bis sieben Hertz - geschlagene flache Rahmentrommel kann einen in spiritueller Arbeit völlig unerfahrenen Menschen innerhalb von nur zehn Minuten in eine tiefe Trance versetzen. Einen vergleichbaren Zustand kann beispielsweise ein in Meditation geübter alter Zen-Mönch ohne ein entsprechendes Klanginstrument erst nach mehreren Stunden erreichen. Dies wurde durch Gehirnstrommessungen bewiesen.
Rhythmus, Euphorie und Ekstase in der heutigen Welt
Keineswegs immer sind es Schamanen, die sich zur Erreichung eines Trancezustandes dieses »magischen Rhythmus« bedienten. Man denke nur an den 4/4-Takt von Militärmärschen, die, unterstützt durch den strengen Gleichschritt der marschierenden Soldaten, eine ähnliche suggestive Wirkung auf deren Gehirn haben. Diese gezielte seelische Manipulation hat nur einen Zweck: Das Denkvermögen wird weitgehend ausgeschaltet, und mögliche Angstgefühle werden zum Verschwinden gebracht. Der Soldat gerät in einen euphorischen Zustand, der ihn beflügelt in die Schlacht ziehen lässt. Hier dient der künstlich herbeigeführte Trancezustand dazu, das Ich und die eigenen Bedürfnisse auszumerzen und sie einem übergeordneten Zweck zu weihen. Wie gefährlich der Einsatz derartiger Praktiken sein kann, wird an diesem Beispiel besonders erschreckend deutlich.
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