Da trat Anna zu Kathrin, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: „Dieses Missverständnis wirst du so schnell nicht vergessen, ich helfe dir.“
Heute Abend weht kein Lüftchen. Spiegelglatt liegt der See in der Abendsonne vor mir. Ich sitze in der ersten Reihe, an seinem Ufer, auf dem von der Tageshitze erwärmten Sand. Die Arme um die Knie geschlagen. Die Luft duftet nach frisch gemähtem Heugras. Meine Träume beginnen. Sie schwirren und flirren über den See. Dunkelgrüne Baumreihen blicken neugierig in den Seespiegel. Am anderen Ufer das Bauernhaus, das grüne Scheunendach glasklar auf den See gemalt. Die untergehende Sonne färbt die Schäfchenwolken rosarot. Sie küssen den Seespiegel. Unzählige Mücken summen. Vorsichtig kommt die Haubentaucherin mit ihren sieben Küken angeschwommen. Sie fangen Mücken. Ich sitze ganz still, genieße das Bild. Plötzlich springt aus dem ruhigen See der Hecht empor. Er schnappt ein, zwei, drei Haubentaucherküken. Trotz des Klagens der Mutter werden sie verschlungen. Die Wellen plätscherten ans Ufer und im Nu ist alles wieder spiegelglatt. Die Sonne versinkt. Der See verfärbt sich augenblicklich in tiefes Blau. Der Vollmond übernimmt das Sonnenlicht. Der aufkommende Wind zerreißt mein Spiegelbild. Die Oberfläche glänzt wie tausend Brillianten und lässt Zauberfische tanzen. Fröstelnd stehe ich auf.
Trockenheit durchzieht den Erdenraum.
Feld, Wiese, Wald und Garten
kein Strauch, ob Baum
wollen nicht länger durstig warten.
Mairegen fällt sanft in der Nacht.
Es tanzt, es klingt das Regenlied,
das Grün, es sprießt in voller Pracht.
Oh diese tropfende Melodie.
Dazu der erquickende Duft
von Kräutern und Regenluft.
Blumenfülle in der Hand.
Das Glas des Lebens
ist gefüllt bis an den Rand.
Mairegen – Wachstum und Segen.
Bei der Abreise rief mir meine Tochter noch hinterher: „Denk bitte an die Zahlenkombination für den Koffer!“ Ich hatte Sorge, den Bus zu verpassen und hörte ihr nicht richtig zu. Ich freute mich schon sehr auf die Reise mit den Freunden.
Im Bus wurde über das Wetter und die Nachbarn gesprochen und wie gut die Kinder in der Schule seien. Koch- und Backrezepte wurden ausgetauscht. Nach zweistündiger Fahrt waren wir am Ziel. Gut sah das Hotel aus. Jeder bekam seinen Koffer. Meinen Koffer sah ich schon von weitem. Zuhause hatte ich ein rotes Schleifchen an den Griff gebunden.
Im Hotelzimmer wollte ich den Koffer öffnen. Oh Gott - mein Kurzzeitgedächtnis. Was hatte meine Tochter mir bei meiner Abfahrt noch zugerufen, wie lautete die Nummer für das Zahlenschloss? Ich war entsetzt. Ich drehte die Zahlenrädchen unzählige Male hin und her – der Koffer blieb zu. Dann telefonierte ich nach Hause, jedoch ohne Ergebnis, keiner da. Das konnte ja heiter werden. Am Abend blieb zum Anrufen keine Zeit, denn wir hatten uns zum Stadtbummel verabredet.
Als ich um Mitternacht todmüde die Tür zu meinem Zimmer aufschloss, vielen meine Blicke sofort auf den Koffer. Es war wie verhext. Abermals probierte ich sämtliche Zahlenkombinationen – wieder ohne Erfolg. Ich war verzweifelt. In meiner Not sprach ich Zauberformeln – es half nichts. Der Koffer blieb verschlossen. Ohne Zähneputzen musste ich ins Bett und kein Schlafanzug sollte mich in dieser winterlichen Kälte wärmen. Was blieb mir übrig. Ich muss erst einmal eine Nacht darüber schlafen, dachte ich. Später, ich hatte schon ein wenig geschlafen, kam mir plötzlich ein Geistesblitz. Ich stürmte aus dem Bett und drehte am Zahlenschloss: 808 und der Koffer sprang auf – endlich.
In Mehrhoog stieg ich in den Regionalexpress Emmerich – Köln. Planmäßige Abfahrt: 09.05 Uhr. Ich steuerte sofort auf einen Fensterplatz zu. Von dort konnte ich alles überblicken. Ich zog meinen Mantel aus, denn im Abteil war es warm. Außer mir waren nur wenige Mitreisende im Zug. Als ich diese betrachtet hatte, ließ ich meinen Blick nach draußen schweifen. Überall war Hochwasser und weite Wiesenflächen der Lippemündung glichen einem See. Der Zug glitt leise über die Gleise. Ich empfand es als angenehm.
Nach wenigen Minuten Fahrtzeit war der Zug in der Kreisstadt angekommen. Dort warteten einige Reisende schon am Bahnsteig. Ich sah, wie eine akkurat gekleidete Mittvierzigerin ins Abteil kam und mir schräg gegenüber Platz nehmen wollte. Zuvor jedoch kramte sie knisternd ein Tempotaschentuch hervor und wischte damit ihren Sitzplatz ab. Ihren eleganten roten Koffer hob sie auf Zehenspitzen stehend ins Gepäcknetz. Die dazugehörige rote Reisetasche stellte sie auf die freie Sitzfläche neben sich ab. Als sie ihren Mantel ausgezogen hatte, setzte sie sich hin. Immer wieder musste ich zu ihr hinübersehen. Sie trug ein graugelbes Kleid mit makellosem weißen Kragen und weißen Manschetten. Ihr dunkles Haar war in der Mitte gescheitelt und in Wellen zu einem einfachen Knoten zurückgekämmt. Auf ihren Lippen lag ein zartrosa Farbton. Ihr Schwanenhals wurde durch eine doppelreihige Perlenkette geschmückt. So ein Gehänge muss doch schwer sein, dachte ich bei mir. Vielleicht saß sie deshalb in leicht nach vorn geneigter Kopfhaltung da. Ihre kleinen hellgrauen Augen blinzelten viel sagend und über ihrem Gesicht lag ein Mona-Lisa-Lächeln. Sie war attraktiv und charmant.
Der Zug verlangsamte sein Tempo und durch einen Lautsprecher ertönte: „Nächster Halt: Düsseldorf Hauptbahnhof!“ Nach einigen Minuten Aufenthalt fuhr der Zug Richtung Köln weiter. Hinter dem Bahnhof, unweit der Gleise, bemerkte ich mehrere große schäbige Häuser, deren Fenster allesamt mit Nummern versehen waren und ich fragte mich, welchen Zweck das wohl hatte. Abends, so bemerkte ich später, waren all diese Fenster hell erleuchtet und hinter fast jedem Fenster stand eine leicht bekleidete Frau. Immer wieder musste ich zu meiner Mitreisenden herüber schauen. Sie saß unverändert da. Sonderlich aktiv war sie bestimmt nicht. Beamtin vielleicht oder piekfeine Geschäftsfrau. Möglich, dass sie Single war oder doch Frau und Mutter – nichts war auszuschließen. Auf einmal kramte sie in ihrer Reisetasche und entnahm einem rosa Döschen eine Tablette. Dann holte sie eine Thermoskanne hervor, schraubte dessen Becher ab, legte die Pille hinein und goss aus der Kanne eine Flüssigkeit in den Becher. Sie trank den Inhalt auf einmal aus und mit einem lauten „Ahh“ stellte sie die Thermoskanne vorsichtig zurück in die Tasche. Sofort roch ich, dass es sich bei dem Getränk nicht um Kaffee oder Tee gehandelt haben konnte und auch die anderen Mitreisenden, die das bemerkt hatten, waren amüsiert. Ich sah nach draußen. Der kalte Ostwind spielte mit den Wolken und ein breiter, blasser Sonnenstrahl kam hervor. Aus den Augenwinkeln sah ich bei Leverkusen ein großes Sportzentrum. Meine Mitreisende war tief in Gedanken versunken und hatte die Augen geschlossen. Ich erschrak, als sie sich plötzlich weit herüberbeugte um abermals an ihre Thermoskanne zu gelangen. Sie goss sich einen guten Schuss von dem braunen Duft ein und lehrte den Becher ohne abzusetzen. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen stand sie auf und verließ das Abteil. Schon bald kam sie wieder und setzte sich. Ich rümpfte meine Nase und fragte mich, ob es bei dem Duft nicht um Parfum handele, oder ob es doch vielleicht Whiskey oder Cognac sei.
Ich schaute auf meine Uhr und dachte, dass doch bald Köln erreicht sein müsste und sah, dass der Zug über die Köln-Deutzer-Rheinbrücke fuhr. Unerwartet holte meine Mitreisende die Thermoskanne hervor und schraubte mit bleichen, zittrigen Fingern den Becher ab. Sie goss ihn voll. Ich konnte vor Spannung kaum atmen. Sie bemerkte, dass ich sie ansah und fragte mich, ob ich nicht auch von ihrem Pfefferminztee wolle. Erschreckt sagte ich: „Nein, nein Danke!“ Im Lautsprecher ertönte: „Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof!“ Ich stand sofort auf. Auf dem Bahnsteig drehte ich mich noch einmal um und sah, dass sie den Becher in ihrer Hand hielt.
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