Nach mehr als 40 Wahlen, die ich im ehemaligen Jugoslawien begleitet habe, muss ich mich doch fragen, wo demokratische Standards mehr zu wünschen übrigen lassen: in Albanien, Serbien oder in den USA – wenn man sich etwa an all die Probleme erinnert, die bei der ersten Wahl von George W. Bush offenbar geworden sind. Wer kontrolliert eigentlich in den USA, ob die Standards besser geworden sind, und vor allem welche Wirkung entfaltet dort ein kritischer Bericht internationaler Wahlbeobachter, der in Albanien wenigstens nicht sofort schubladisiert werden kann, weil dieses Land der EU beitreten will? Im Wahlkampf in Albanien erklärte mir die kleine, von Studenten getragene Oppositionspartei G 99, die konservative Regierung sei allein wegen Schmiergeldzahlungen beim Bau der Autobahn an die Grenze zu Kosovo untragbar. Außerdem sei der Bau viel teurer gewesen als geplant. Ich dachte an den Wiener Flughafen und musste wieder einmal zum Schluss kommen, dass die kritische Berichterstattung über Mängel und Missstände am Balkan einem nicht gerade leicht gemacht wird. Trotzdem ist eine derartige kritische Berichterstattung freilich unerlässlich; denn natürlich kann es nicht das Ziel der EU sein, die in diversen EU-Staaten herrschenden niedrigsten Standards als Maßstab für die Aufnahme neuer Mitglieder zu verwenden, wie das vielleicht bei der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien teilweise der Fall war.
Trotzdem will ich mich nicht mit der Erkenntnis abfinden, dass der Balkan in Wien am Rennweg 14)beginnt und sich immer stärker Richtung Norden und Westen ausbreitet. Diese Entwicklung beklagte Alexander Vodopivec in seinem Buch „Die Balkanisierung Österreichs“ 15)bereits vor mehr als 40 Jahren auf eindrucksvolle Weise:
„Balkan – das war einmal gleichbedeutend mit Unverläßlichkeit, Lethargie, Korruption, Verantwortungsscheu, Mißwirtschaft, Verwischung der Kompetenzen und Grenzen in der Rechtsordnung und noch einiges mehr. Der Begriff beschränkte sich ursprünglich auf die Südoststaaten Europas. Eine nicht eben erfreuliche Entwicklung hat ihn jedoch aus seinen geographischen Grenzen herausgelöst. Vieles von dem, was seinen Inhalt ausmacht, ist in einer Art Westwanderung Bestandteil der österreichischen Politik geworden. Für diesen Prozeß wurde hier das Wort Balkanisierung gewählt; ihn zu schildern, setzt sich dieses Buch zum Ziel.“
Was würde Vodopivec heute schreiben (müssen)? Mich erfüllt jedenfalls nach zehnjähriger Tätigkeit als Korrespondent der Eindruck mit Sorge, dass wir anstelle einer dynamischen Europäisierung des Balkans eine weit raschere Balkanisierung Europas erleben, die der realen Ausbreitung der Balkan-Stereotypen immer weniger Grenzen setzt. Gerade deswegen ist der Titel meines Buches „Im Kreuzfeuer – Am Balkan zwischen Brüssel und Belgrad“ durchaus hintergründig und zweideutig gemeint.
1)Die Balkanhalbinsel hat eine Fläche von 505.000 Quadratkilometern und ca. 50 Millionen Einwohner. Begrenzt wird die Halbinsel an drei Seiten durch Meere (Schwarzes Meer, Marmarameer, Ägäisches Meer, Ionisches Meer und Adriatisches Meer). Die geografische Abgrenzung ist ebenso umstritten wie die Frage, welche Staaten dem Balkan zugehören. Unzweifelhaft sind das Bulgarien, Griechenland, Albanien, der Kosovo, Mazedonien, Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina. Das romanische Rumänien und vor allem das katholische Kroatien haben bereits massive Vorbehalte, zum Balkan gerechnet zu werden. Den zivilisatorischen Aspekt dieser Zuordnung habe ich weiter unten ausführlich erläutert.
2)Westbalkan ist ein ausschließlich politischer Begriff, eine künstliche Schöpfung für eine Ländergruppe auf dem Weg Richtung EU. Der Westbalkan umfasst das ehemalige Jugoslawien minus Slowenien plus Albanien. Somit zählen sieben Staaten zum Westbalkan: Albanien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien, Mazedonien und der Kosovo. Allein die wirtschaftlichen Entwicklungsunterschiede zwischen Kroatien und dem Kosovo zeigen, wie heterogen diese Gruppe ist; gleiches gilt für das Niveau der EU-Annäherung.
3)Die sechs Orienterzählungen sind: „Durch die Wüste“, „Durchs wilde Kurdistan“, „Von Bagdad nach Stambul“, „In den Schluchten des Balkan“, „Durch das Land der Skipetaren“ und „Der Schut.“
4)Die entscheidenden territorialen Veränderungen brachte nach dem türkisch-russischen Krieg der Berliner Kongress. Ergebnis der Verhandlungen war der am 13. Juli 1878 unterzeichnete Berliner Vertrag, der den Frieden von San Stefano zuungunsten Russlands revidierte. „Groß-Bulgarien“ wurde aufgeteilt in das zwar autonome, formal aber unter osmanischer Herrschaft stehende Fürstentum Bulgarien, in die Provinz Rumelien und in das osmanische Mazedonien. Die Unabhängigkeit von Rumänien, Serbien und Montenegro wurde anerkannt. Österreich-Ungarn erhielt gegen den Protest der Türkei das Recht, Bosnien und die Herzegowina zu besetzen, um den russischen Machtzuwachs auf dem Balkan auszugleichen. 1908 erfolgte dann die Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn.
5)An den beiden Balkankriegen nahmen in wechselnden Bündnissen folgende Staaten Teil: das Osmanische Reich, Bulgarien, Montenegro, Serbien, Griechenland und Rumänien. Zu den Ergebnissen der Balkankriege zählte die Aufteilung der historischen Region Mazedonien und die Unabhängigkeit Albaniens. Serbien und Griechenland hatten sich schon auf die Aufteilung der albanischen Gebiete geeinigt, aber mit italienischer und deutscher Unterstützung konnte Österreich-Ungarn das verhindern. Durch die Schaffung des neuen Staates Albanien erreichte die Wiener Diplomatie ihr Ziel, Serbien von der Adria fernzuhalten. Die Balkankriege waren Wegbereiter für den Eintritt der südosteuropäischen Staaten in den Ersten Weltkrieg. Das Osmanische Reich trat ebenso wie das auf dem Balkan isolierte Bulgarien an der Seite der Mittelmächte in den Krieg ein. Beide Mächte strebten eine Revision der neu gezogenen Grenzen an.
6)Jugoslawien war ein unter der Schirmherrschaft der Westmächte geschaffenes künstliches Gebilde. Zusammengesetzt wurde es aus den Randzonen jener beiden Vielvölkerstaaten, die auf dem Balkan am längsten Bestand hatten und sein Bild am dauerhaftesten geprägt haben: das Osmanische Reich und die österreichisch-ungarische Monarchie, der Erbe des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
7)NEUBACHER, Hermann. „Sonderauftrag Südost. 1940–45, Bericht eines fliegenden Diplomaten 1956“. Musterschmid Verlag, Göttingen. S. 17 f. Neubacher war während des Zweiten Weltkriegs Sondergesandter des deutschen Reichsaußenministeriums für den Balkan.
8)In Kroatien dauert die jährlich fällige Verlängerung der Akkreditierung als Auslandskorrespondent mindestens eine Woche, in Bosnien und Herzegowina 30 Minuten. Wenn ich meine kroatischen Freunde aufziehen will, frage ich immer: „Wisst Ihr, was Euch Serben, Bosniaken, Albaner und Montenegriner voraus haben?“. Auf die erstaunte bis entrüstete Gegenfrage: „Was?!“ lautet die Antwort: „Sie wissen, dass sie am Balkan sind!“
9)Slowenien blieb diese Zuordnung vor allem erspart, weil der „Krieg“ nur zehn Tage dauerte. Slowenien konnte sich somit am unbeschadetsten aus der Konkursmasse des alten Jugoslawien verabschieden. Daher hat Slowenien auch keine Probleme mit dem Haager Tribunal. Außerdem war das Land die am weitesten entwickelte Teilrepublik und verfügte in den 1990er Jahren über eine sehr fähige politische Elite, die nach einigen Anlaufschwierigkeiten Slowenien konsequent Richtung EU steuerte.
10)Dabei ging es um die Fahndung nach General Ante Gotovina. Vom Haager Tribunal wegen Kriegsverbrechen im Zuge der Befreiung Kroatiens angeklagt, war Gotovina seit Sommer 2001 auf der Flucht. Verhaftet wurde er im Oktober 2005 in Spanien.
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