„Ich habe mich dann hin und wieder umgehört, auch einmal Kontakt mit der Steuerberaterkammer aufgenommen, um zu erfahren, ob da irgendetwas an, na sagen wir mal, Merkwürdigkeiten über ihn vorliegt, also, anhängig ist”, hörte ich Koman wie aus dem Off meiner gedanklichen Szene. „Ich hatte dabei schon den Eindruck, dass Simonis einen zweifelhaften Ruf besitzt, der über ein eigentlich akzeptables Maß hinausgeht. Man war sehr freundlich, aber null Information. Aus Datenschutzgründen. Ich wollte zum damaligen Zeitpunkt nicht weiter nachbohren, sonst hätte ich denen ihren Datenschutz um die Ohren geschlagen. Ich nehme ja immer noch an, dass es sich um ein banales Insiderproblem handelt. Kollegenintrigen, Neid. Es kann auch grober Unfug sein, ist ja bisher nichts passiert.”
„Immerhin Morddrohung, wie Sie eben sagten.” Jetzt war ich wieder bei der Sache. „Gibt es denn irgendetwas Konkretes?”
„Da”, sagte er und reichte mehrere zusammengefaltete, lindgrüne Blätter Papier über den Tisch, die er aus seiner Brusttasche gezogen hatte.
„Sie möchten, dass ich das lese?”, fragte ich, „jetzt, hier?”
„Nein, ich möchte, dass Sie daraus Papierflieger basteln, jetzt und hier! Entschuldigung, natürlich sollen Sie es lesen, ich bitte darum.”
„Ach, hören Sie doch auf, sich zu entschuldigen, was frage ich auch so blöde.”
Ich entfaltete die Blätter und überflog deren Inhalte erst einmal. Es waren Kopien, aber, wie mir Koman erklärte, auf dem gleichen grünen Papier, wie die Originale. Jedes Blatt war sowohl mit dem Tagesdatum versehen, an dem Simonis jeweils die Botschaft gefunden hatte, als auch mit dem Datum, an dem er es der Polizei übergeben hatte. Es waren immer nur wenige Zeilen darauf gedruckt; alle in 12-Punkt Arialschrift.
Zwei weitere Dinge waren stets gleich: Die Anrede Euer teuflische Pestilentia und der „Unterzeichnende” Eure segensreiche Medica. Dieses sprachliche Ritual bezog sich offensichtlich auf den ersten Drohbrief. Er lautete:
IHR SEID DIE TEUFLISCHE PESTILENTIA
UND ICH WERDE DIE WELT VON EUCH,
DIESEM ÜBEL, BEFREIEN!
ICH, EURE SEGENSREICHE MEDICA
„Klingt ja recht bizarr”, war mein erster Kommentar.
„Na, lesen Sie erst einmal alle.”
Ich las den zweiten Brief:
EUER TEUFLISCHE PESTILENTIA,
EIN GUTER TEIL DER LEBENSFREUDE BESTEHT AUCH
DARIN, DASS MAN NICHT TOT IST, SAGT MAN.
EURE LEBENSFREUDE WIRD EUCH BALD VERGEHEN.
UND DAFÜR WERDE ICH SORGEN, MIT TÖTLICHER
SICHERHEIT.
EURE SEGENSREICHE MEDICA
„Was für ein Unsinn!”, schüttelte ich den Kopf.
„Weiterlesen!”. Koman war unbarmherzig.
EUER TEUFLISCHE PESTILENTIA,
DAS LEBEN IST SCHÖN,
NUR KOMMT MAN LEIDER NICHT LEBEND RAUS,
SAGT MAN.
UND DAS WERDET IHR SCHNELLER ERLEBEN,
ALS IHR GLAUBT.
EURE SEGENSREICHE MEDICA
Ich musste kurz auflachen: „Das kann man doch nicht ernst nehmen, da hat doch jemand einen mehr als bloß dezenten Dachschaden.”
Koman schwieg und deutete nur auf die restlichen zwei Blätter.
„Ja, doch! Ich lese ja schon.”
EUER TEUFLISCHE PESTILENTIA,
DER TOD IST DAS EINZIGE DEMOKRATISCHE MITTEL,
SAGT MAN.
UND MANCHE MUSS MAN ZUR PRAKTIZIERTEN
DEMOKRATIE ZWINGEN.
EURE SEGENSREICHE MEDICA
Der letzte lautete:
EUER TEUFLISCHE PESTILENTIA,
ICH SAH EUCH KÜRZLICH WIEDER EINMAL ZORNIG,
MIT HOCHROTEM KOPF. ES MACHT MICH SO SCHARF,
WENN IHR WÜTEND SEID. DANN FÜHLE ICH MICH DER
TESTAMENTERÖFFNUNG GLEICH VIEL NÄHER.
UND DA ERWARTE ICH EINEN FETTEN HAPPEN,
SAG’ ICH IMMER.
EURE SEGENSREICHE MEDICA
Ich reichte Koman die Blätter wieder zurück.
„Und?”, fragte er herausfordernd?
„Das Essen kommt!”, meldete ich erleichtert, als ich Sebastiano mit zwei überdimensionalen Pastatellern auf unseren Tisch zusteuern sah.
„Mhh”, kaute Koman seine erste Gabelladung, „nicht schlecht. Aber bitte, was halten Sie davon? Geben Sie mir eine Kostprobe Ihrer analytischen Intelligenz.”
Aufmerksam und mit kleinlicher Präzision drehte ich ein saucengetränktes Nudelnest auf meine Gabel, schob es bedächtig in den Mund, kaute und schaute Koman dabei selbstzufrieden an. „Also. Es geht aus dem Inhalt nicht hervor …”, ich nahm einen Schluck Wasser,” … nicht hervor, ob es sich bei dem Verfasser um eine Sie oder einen Er handelt. Richtig?”
„Aber die Unterschrift oder wie man das nennen soll, heißt doch Eure und Medica ist doch ein Femininum. Deutet das nicht auf einen weiblichen Absender hin?”
„Erst einmal könnte das ein Ablenkungsmanöver sein, damit man genau das denkt. Wesentlicher ist, dass es sich bei Medica um den lateinischen Begriff für Medizin handelt, also die Medizin. Im Lateinischen kennzeichnet die Endsilbe a , auch ohne Artikel, dass Medica grammatikalisch als weiblich einzuordnen ist. Eure Medica heißt also lediglich: Eure Medizin und nicht etwa Eure Medizinerin.”
„Also kennt sich die gesuchte Person mit der lateinischen Sprache aus”, dachte Koman laut nach.
„Muss nicht. Im Italienischen und im Spanischen gibt es ähnliche Regeln. Es kann auch aus irgendeinem Roman angelesen und übernommen worden sein.”
„Und was soll das mit der Anrede Pestilentia ?”
„Ich nehme an, dass Simonis damit auf die gleiche Stufe, wie die Pest gestellt werden soll. Eine Geisel der Menschheit, eine Strafe Gottes. Letztlich natürlich eine zerstörende Kraft, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, der Medica , ausgerottet werden muss. Ich interpretiere es als eine Art Legitimation, als Rechtfertigung für den Plan seines gewaltsamen Todes.”
„Weshalb meinen Sie, dass der Schreiber …”
„Oder die Schreiberin!”
„… die Schreiberin, die dritte Person benutzt?”
„Vielleicht ein Hinweis drauf, dass zu Simonis irgendeine Beziehung besteht, die eigentlich das vertrauliche Du einschließt, man will dieses aber bewusst oder auch unbewusst vermeiden. Simonis steht ja mit Gott und der Welt auf Duzfuß. Aber wir wollten die Angelegenheit aus meiner Sicht betrachten, richtig?”
Koman setzte zu einer Antwort an, die ich ihm jedoch vorwegnahm.
„Richtig! Also weiter. Der Verfasser oder die Verfasserin besitzt, neben einer gewissen literarischen Neigung oder Fertigkeit, einen Hang zum Spott, zur Ironie. Zudem sind der betreffenden Person nicht nur die Örtlichkeiten des Anwesens von Simonis vertraut, sondern sie muss sich wenigstens ab und zu in seiner näheren Umgebung aufhalten. Ob Simonis das jeweils mitbekommt, ist allerdings fraglich.”
„Wie meinen Sie das?”
„Ganz einfach, er hat einen großen Freundeskreis, was man halt so ‚Freunde‘ nennt. Man trifft sich hier auf einem Fest, einem Empfang, mal dort auf einer Party. Da kann man ihn aus der Anonymität der Menge heraus beobachten und auf das Genaueste studieren, ohne dass er etwas davon mitbekommt. Selbst Fotos lassen sich mit diesen winzigen Digitalkameras bei fast jeder Beleuchtung machen, ohne dass es auffällt. Da kennt der Anonymus das Toilettenfenster, weiß sogar, wann Simonis die Örtlichkeit aufsucht und”, ich blickte ihn überlegend an, „diese Person kennt seine sprachlichen Besonderheiten. Ist Ihnen das aufgefallen?”
„Welche sprachlichen Besonderheiten?”
„ Sagt man und sag’ ich immer. Das ist O-Ton Simonis! Wenn er diese Minipamphlete nicht selbst verfasst, um sich wichtig zu machen, äfft ihn jemand nach!”
„Bis jetzt decken sich unsere Gedankengänge, aber das Letzte ist neu. Sind Sie sicher?”
Ich nickte mit vollem Mund und wandte mich konzentriert der akribischen Fertigstellung einer neuen Pastarolle zu.
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