Der Kleine ist nicht aus der Ruhe zu bringen. «Na wenn schon. Fuffzich Meter rin in den Wald, und kein Aas findet uns.» Aus Richtung Berlin nähert sich ein weiterer Lieferwagen mit einem Pkw im Schlepp. Auch diesem Fahrer schwant, was ihm blüht, und er versucht, dem Hindernis links auszuweichen. Der geschleppte Wagen bleibt hängen, das Seil reißt.
Der um fünf Mark erleichterte Bäcker nutzt die Gelegenheit. Mit aufheulendem Motor bricht er eine Bresche durch den Baumwipfel und rast in Richtung Hangelsberg davon.
Der Große versucht zu schießen, doch die Waffe streikt.
Jetzt wird es eng. Bis zum Dorf sind es kaum anderthalb Kilometer.
Die beiden aus dem Schleppzug sind ausgestiegen und nähern sich drohend.
«Hände hoch!», verlangt der Große. Hoffentlich haben die den Versager nicht mitgekriegt.
Haben sie anscheinend nicht, denn sie heben brav die Hände und leeren anschließend ebenso brav ihre Taschen. Geld haben sie angeblich nicht bei sich.
«Durchsuch die Wagen!», fordert der Kleine barsch. Widerstrebend fügt sich der Große.
Aus Fürstenwalde rasselt bereits ein weiterer Wagen heran. Ein Lastzug der Schultheiss-Patzenhofer-Brauerei. Der kann die Sperre beim besten Willen nicht durchbrechen.
Der Kleine hat die beiden Fahrer in das geschleppte Fahrzeug dirigiert und bedroht jetzt die Bierkutscher, die nur zögernd aussteigen.
Der Beifahrer hat die lederne Geldtasche umgehängt und sieht sich suchend um. Der dunkle Waldrand ist nur ein paar Meter entfernt.
«Mach dir nich unglücklich, Fritze», mahnt sein Kollege.
«Denk an Frau und Kinder.» In der Tasche sind 228 Mark.
«Einsteigen und nich vom Fleck rührn!», befiehlt der Kleine. Vom Dorf her nähert sich ein weiteres Auto.
«Nischt wie weg hier!», fleht ihn der Große an. «Meine Knarre klemmt!»
«Meine ooch!», erwidert der andere kaltblütig und steigt über das Geäst, um die Neuankömmlinge ins Visier zu nehmen.
In dem Wagen rührt sich nichts. Vorsichtig schleichen sich die beiden in einem Bogen von hinten an. «Hände hoch!», ertönt scharf das Kommando.
Im Gegenlicht des Brauereiwagens sehen sie, dass der Befehl von den Pkw-Insassen ausgeführt wird. Vier Männer sitzen darin.
«Pass uff! Det is ’ne Falle!», zischt der Große.
Doch der Kleine lässt sich nicht aufhalten und reißt die Wagentür auf. «Moneten her, oder es knallt!», schnauzt er. «Los, los!» Die vier kramen ihre Brieftaschen hervor. Der Fahrer trägt ein goldenes Parteiabzeichen am Revers. Von hinten spricht ihn einer mit «Kreisleiter» an, als er seine Geldbörse nach vorn reicht. Auf der anderen Seite steckt der Große zwei Portemonnaies ein.
«Türen zu, Fenster hoch und keinen Mucks, verstanden!», herrscht der Kleine die vier Insassen noch einmal an und hastet davon.
Gerade ist der siebente Wagen zwanzig Meter vor der Sperre zum Stehen gekommen. Der Fahrer will zurückstoßen und wenden. Zu spät.
Der Kleine steht schon neben ihm und reißt die Tür auf.
Nur zwanzig Mark hat der ältere Herr aus sichtbar besseren Kreisen bei sich. «Brieftasche!», fordert der Räuber gebieterisch.
Die wird ihm gereicht, enthält jedoch nur Papiere. Der Kleine beleuchtet sie mit der Taschenlampe und stutzt. «Nischt für unjut, Herr Oberstleutnant!», sagt er und deutet vor dem Kommandeur des 4. Reiterregiments ein Hackenzusammenschlagen an.
Als er sich umdreht, muss er unwillkürlich lächeln. Sieben Autos stehen da kreuz und quer mit eingeschalteten Schweinwerfern um den gefällten Baum herum. Sein Kumpan ist schon in den Wald abgetaucht. Er jedoch steht im Scheinwerferlicht und brüllt: «Wer durchkommt, darf weiterfahren!» Dann ist auch er im Gehölz verschwunden.
Niemand versucht, ihn zu verfolgen. Alle sind damit beschäftigt, sich aus der Falle zu befreien. Blech knirscht, Glas splittert, lautes Gezänk hebt an. Als das Brauereifahrzeug durch die Sperre bricht, schiebt es einen Pkw in den Straßengraben.
Zehn Minuten später trifft endlich die Polizei ein. Es vergeht mindestens eine weitere Stunde, bis die Beamten die Streithähne beruhigt und sich einen groben Überblick über das Geschehen verschafft haben. Dass sich unter den Überfallenen ein SS-Oberführer, ein NSDAP-Kreisleiter, ein Gauamtsleiter, ein Regimentskommandeur und der Oberstleutnant befinden, macht die Sache nicht leichter für sie.
ALTE FREUNDE UND BEKANNTE
HERMANN KAPPE, seit Kaisers Zeiten Kriminalkommissar im Berliner Polizeipräsidium, ja schon Oberkommissar gewesen und 1933 mit einer Maßregelung davongekommen, ist den ganzen Tag unterwegs gewesen. In einem vom Schwamm angefressenen Haus in der Joachimstraße am Rosenthaler Tor sind drei Personen ermordet worden, zwei Männer und eine junge Frau, und wenn man ihn fragt, ist der Fall eigentlich sonnenklar. Dennoch sind allerhand Auskünfte einzuholen, Nachbarn und Geschäftsleute zu befragen, eben der übliche Kleinkram, um den von Anfang an Verdächtigen zu überführen. Oder zu entlasten. Doch dafür hat Kappe keine Anhaltspunkte gefunden.
Als er aus der Joachimstraße in die schmale Gipsstraße einbiegt, bläst ihm der eisige Januarwind ins Gesicht. Bis zum U-Bahnhof Weinmeisterstraße sind es nur zweihundert Meter. Eilig taucht Kappe dort ab in den warmen Mief, der ihm aus dem Untergrund entgegenweht. Manchmal ist die U-Bahn ganz nützlich. Wenn er am Alex in die Linie E umsteigt, statt im Präsidium zwei, drei weitere Überstunden - selbstverständlich unbezahlt, er ist Beamter - zu den ungezählten bisherigen hinzuzufügen, kann er in zehn Minuten zu Hause sein. Fast eine halbe Stunde vor Feierabend. Doch das widerstrebt ihm. Hat eine der Frauen in der Joachimstraße nicht davon gesprochen, der verdächtige Ehemann der Ermordeten treibe sich gerne in den Kneipen rund um den Moritzplatz herum?
Kappe hat ein Bild des Verdächtigten in der Tasche. Da kann er auch zum Moritzplatz fahren, irgendwo einen heißen Grog trinken und ein bisschen herumhorchen. Es ist schließlich seine alte Gegend. Sein Freund und ehemaliger Nachbar wohnt noch immer in der Waldemarstraße, wo Kappe sein erstes möbliertes Zimmer hatte. Und dieser Theodor Trampe ist es eigentlich auch, den Hermann Kappe im Kopf hat, als er statt einer nun drei Stationen mit der U-Bahn fährt und am rautenförmigen Moritzplatz wieder in den schneidenden Ostwind tritt. Ein Grog kann wirklich nicht schaden.
Eine gute Stunde später und um zwei Grog, einen Tee und ein paar nichtssagende Auskünfte schwerer spürt Kappe den scharfen Wind kaum noch. Am Oranienplatz biegt er zum Elisabethufer ab, das seit jüngstem in Hoffmann- und Schröderdamm unterteilt ist, benannt nach zwei SA-Helden. Vor 23 Jahren hat er hier am Luisenstädtischen Kanal den Mord an einem sechzehnjährigen Mädchen aufgeklärt. Der Täter war damals entkommen. Der Kanal ist längst zugeschüttet, nur die Waldemarstraße sieht aus wie eh und je, und die Kanalbrücke ist wie versehentlich erhalten geblieben.
Kappe hofft, Theodor Trampe zu Hause anzutreffen. In letzter Zeit verspürt er häufiger den Wunsch, mal ein paar Worte mit dem alten Freund zu wechseln. Jeder Mensch braucht hin und wieder einen, mit dem sich offen und unverstellt reden lässt, und da kann Kappe sich weit und breit in seiner Verwandtschaft und Bekanntschaft umgucken - von den Kollegen ganz zu schweigen –, außer Trampe fällt ihm keiner ein, dem er vertrauen darf. Klara, seine Frau, mit ihrem Hitlerfimmel kann er mit seinen Sorgen nicht behelligen. Außerdem fürchtet er, dass sie irgendwo mal eine Bemerkung fallenlassen könnte, die in diesen Zeiten fatale Folgen hätte.
Seinen ältesten Sohn Hartmut möchte Kappe erst recht nicht in irgendwelche Konflikte mit dem bringen, was ihm täglich in der Schule und bei der HJ eingetrichtert wird. Der Siebzehnjährige ist gewitzt und hat selber seine Zweifel. Im nächsten Jahr werden sie ihn zur Wehrmacht einziehen, doch daran will Kappe lieber nicht denken. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg, haben die Kommunisten 1932 verkündet, und sowenig Kappe sonst von den Moskautreuen gehalten hat - diesmal sieht es aus, als würden sie recht behalten. Deutschland ist wieder eine Militärmacht, stärker und moderner als zu Kaisers Zeiten. Das besetzte Rheinland ist befreit, die Wehrpflicht eingeführt, in Spanien fallen deutsche Bomben, und um Österreich wird gestänkert. Heißt der Feind bald wieder Frankreich?
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