In unserem gemeinsamen Garten, dessen Betreuung uns große Freude bereitete, sprossen Blumen und Kräuter aller Art. Eines Tages, nachdem wir die angrenzenden Wälder auf der Suche nach Heilkräutern erschlossen hatten, schlug Lilith vor, das nahe gelegene Dorf zu besuchen. Ihren Arm bei meinem eingehakt hatten wir uns durch die Straßen vorgetastet. Es fiel mir auf, dass sich der Druck auf meinen Oberarm unmerklich verstärkte. Die Angst stand Lilith ins Gesicht geschrieben, während ihr Atem sich beschleunigte. Sie war immer eine willensstarke Frau gewesen.
„Bist du sicher, dass du so weit bist“, fragte ich Lilith.
„Nicht voll und ganz. Aber lass es uns einfach versuchen“, war die Antwort. Und so bezogen wir in Paris unweit der Sorbonne eine Wohnung, die uns Albert Mercure organisierte. Aufgeregt schlichen wir durch die Straßen, verwundert darüber, wie viel sich in den letzten Jahren geändert hatte.
„Hat dir Albert mitgeteilt, wer seiner Arbeitsgruppe noch angehört“, wollte Lilith wissen.
„Ja. Da wären Irene Lucia, eine Chemikerin aus Spanien, die bereits seit einiger Zeit an der Sorbonne gastiert und Abdul Adziz, ein muslimischer Arzt, der ursprünglich aus dem Iran stammt.“
„Aus dem Iran? Ein Moslem also. Wie hat es ihn denn nach Paris verschlagen?“
„Hat mir Albert nicht gesagt. Am besten wir fragen Abdul einfach selbst.“
Es stellte sich heraus, dass Abduls Eltern nach Spanien emigriert waren, um in Sevilla ein neues Leben zu beginnen. Im ehemaligen Schmelztiegel westlicher und östlicher Traditionen erwarteten sie, sich zwangloser entwickeln zu können. Die Erosion der straffen christlichen Verhaltensweisen ebnete ihnen im Gegenzug den Weg, medizinische Forschung uneingeschränkt voranzutreiben, dachten sie. Die Realität offenbarte sich nicht wertfrei, das heißt, die Probleme ihrer Heimat konnten sie hinter sich lassen, jedoch wurden sie durch andere ausgetauscht, auf die sie nicht vorbereitet waren. Muslimen kam man nicht selten mit Misstrauen entgegen, bei einigen reichte es bis zur Ablehnung.
Abdul hatte bereits früh sein Interesse für Medizin erkannt. Sein größter Vorteil gegenüber anderen angehenden Medizinern war, sowohl mit westlichen wie mit östlichen Verhaltensweisen vertraut zu sein und für ihn war es selbstverständlich, sich den Umständen entsprechend zu verhalten. Sein Repertoire an medizinischem Wissen ergänzte sich sozusagen gegenseitig. Trotzdem war für ihn die Karriereleiter enden wollend. Er sei zu jung, hätte abstruse Ideen und außerdem würde seine Religion immer wieder zu Problemen führen, wurde hinter vorbehaltender Hand gemauschelt. Zu seinem Glück fand er an der Universität Verbündete, die ihn in das Weiße Feuer einführten, um ihm nach seiner Initiation Albert Mercure vorzustellen, der restlos begeistert war, weil Abdul recht unkonventionell desgleichen einfallsreich an heikle Fragenstellungen heranging.
„Diese Irene Lucia stammt ebenfalls aus Spanien“, meinte Lilith. „ Und ihre Lebensgeschichte ist nicht weniger ungewöhnlich.“
„Tatsächlich?“
Wie Lilith war Irene Halbjüdin, was den Alltag nicht unbedingt erleichterte, denn sie fühlte sich weder voll und ganz der jüdischen noch der christlichen Gemeinschaft zugehörig, geschweige denn akzeptiert. Im Gegenzug dazu entwickelte Irene einen beachtlichen Willen, der sie umso zielstrebiger werden ließ, je härter die Schicksalsschläge sich auftaten. Ihre Mutter starb früh und als ältere von zwei Schwestern war es nun an ihr, darauf zu achten, dass zu Hause alles weiterhin seinen gewohnten Gang ging. Selbst als sie an einer Blutvergiftung fast gestorben wäre, weil sie sich auf dem Landgut des Vaters beim Weinlesen verletzt hatte, gab sie nicht klein bei. Nach dem anfänglichen Wunsch, Tierärztin zu werden. entschloss sie sich, an der Universität von Sevilla Chemie zu inskribieren, wenngleich ihre Beweggründe seltsam anmuten. Irene wollte Funktion und Beschaffenheit des Blutes vollkommen verstehen, um eines Tages ein Substrat kreieren zu können, das bei Blutverlust menschlichem Blut beigemengt werden könne.
Sie war eine der ersten weiblichen Assistenzprofessorinnen an der Universität von Barcelona. Während ihres Vortrages in Frankreich, der von einigen Kollegen nicht ganz ernst genommen wurde, trat Albert Mercure an sie heran.
„Morgen früh um acht Uhr hat Albert die erste Zusammenkunft angesetzt“, erklärte ich.
„Es ist lange her, seit ich die Sorbonne von innen gesehen habe“, sinnierte Lilith „Ich fühle mich kribbelig wie eine Studentin, die zum ersten Mal die Schwelle der Universität betritt.“ Einige Wochen später hatten sich innerhalb der Arbeitsgruppe Freundschaften entwickelt, wobei nicht nur die Zeit im Labor miteinander verbracht wurde. Albert Mercure hatte bereits eine Menge Vorarbeit geleistet, wobei ihm Abdul Adziz behilflich war. Sie hatten alles an Literatur zusammengetragen, was über Aurum Potabile zu finden bzw. alles, was damit in Zusammenhang zu bringen war. Tagelang durchstöberten sie die Schriften und mussten sich bald Hilfe von außerhalb holen, denn keiner von ihnen war des Sanskrits, des Deutschen oder des Mandarins mächtig. Schließlich hatte sich der entscheidende erste Schritt heraus kristallisiert. Welches pH-neutrale Lösungsmittel ist dazu im Stande, edle Metalle zu lösen?
„Ich schätze mal, dieses Alkahest, wie es Paracelsus nannte, existiert nicht“, argwöhnte Irene.
„Jedenfalls nicht, wie wir uns das vorstellen“, meinte Albert. „Entweder sein Goldwasser enthielt gelöstes Gold, dann müsste er ein extrem saures bzw. oxidierendes Lösungsmittel wie Königswasser beigemengt haben, oder es enthält kein gelöstes Gold und er löste irgendetwas anderes in seinem Elixier, das keinen hohen pH-Wert erforderte.
„Könnte es nicht sein, dass es noch eine Möglichkeit gibt?“, mutmaßte Lilith. „Was, wenn er sozusagen über einen Umweg oder eine Zwischenstufe Gold in gelöster Form fabrizierte, wie Goldchlorid, und dann irgendwie mit einer anderen Substanz wieder umwandelte, sodass er dieses Elixier verabreichen konnte?“
„Na ja, interessante These“, sagte ich. „Aber die starke Säure verdrängt immer die schwache, das heißt, eine schwache Säure, etwa Essigsäure, könnte niemals Goldchlorid zu Goldcarbonat umwandeln.“
„Muss es auch nicht“, wandte Abdul ein. „Im Magen herrscht doch sowieso ein stark saures Milieu. Es würde demnach wieder Goldchlorid entstehen.“
„Dem stimme ich zu“, erwiderte ich. „Dessen ungeachtet: Was sollte dem Magen anderes übrig bleiben, als das Goldchlorid wieder auszuscheiden? Er kann es doch nicht verwerten.“
„Woher wissen wir das?“, entgegnete Lilith. „Wir haben es doch nie probiert und die medizinische Literatur diesbezüglich lässt zu wünschen übrig.“
„Da ist was dran“, pflichtete ihr Albert bei. „Ich schlage vor, als nächsten Schritt, probieren wir die plausibelsten Rezepte aus und verabreichen sie Versuchstieren. Wie wär´s mit Heuschrecken? Die leben etwas mehr als ein halbes Jahr, sind einfach zu handhaben und leicht verfügbar.“
Dem hatte niemand etwas entgegen zu setzten.
Es dauerte weitere Wochen bis wir brauchbare Arbeitsvorschriften aufweisen konnten, denn sie waren oft von alchemistischer Symbolik durchzogen. Viele waren in fremden Sprachen verfasst, wobei die Übersetzer an ihre Grenze stießen, etwa weil sie die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge nicht begriffen und dies wiederum in Rücksprache mit den Mitgliedern der Arbeitsgruppe leicht zu Missverständnissen führen konnte.
Als wir endlich halbwegs brauchbare Rezepturen in unseren Händen hielten, arbeiteten wir in zwei Gruppen weiter. Hier taten sich weitere Probleme auf. Die Synthesen zogen sich über Wochen und inkludierten abstruse Ideen: Etwa den Mondzyklus. Abdul unterstützte die Übersetzer so gut es ging und organisierte beziehungsweise betreute die Heuschrecken.
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