Rachel Hauck - Memory House

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Beck Holidays Welt scheint plötzlich aus den Fugen zu geraten. Die toughe junge Frau erwartet nicht nur ungewollt ein Kind, sie wird auch wegen eines Fehlverhaltens von ihrem Dienst als New Yorker Polizistin suspendiert. Am Tag ihrer Entlassung erhält sie dann überraschend die Nachricht, sie habe in dem Ort in Florida, wo ihre Familie früher den Sommerurlaub verbracht hat, ein Haus geerbt. Sie reist dorthin, um sich das Haus in der Memory Lane anzuschauen. Doch aufgrund einer Amnesie kehrt ihre Erinnerung einfach nicht zurück. Ihr fehlen seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center, bei denen ihr Vater starb, der ebenfalls Polizist war, große Teile ihrer Kindheit und Jugend. So erkennt sie auch nicht auf der Beerdigung der Erblasserin ihre ehemalige Jugendliebe Bruno. Zwischen der verstorbenen Everleigh Applegate und Becks Lebensgeschichte scheint es etliche Parallelen zu geben. Ein Tornado hatte einst ihre junge Ehe wie auch ihren Traum von Familie zerstört. Notgedrungen gibt sie ihren Säugling zur Adoption frei. Und dann trifft sie einen früheren Mitschüler, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Sie sehnt sich nach Veränderung und steckt doch gefangen in ihrer Erinnerung. Es liegt an ihr, die Vergangenheit und das Trauma zu überwinden, um wieder ein erfülltes Leben zu führen. Ist das auch der Grund, warum Everleigh später das „Memory House“ an Beck vererbt hat?

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„Hey, hübsche Polizei-Lady, wie wär’s, wenn Sie mich einfach laufen lassen?“ Boudreaux verlegte sich jetzt aufs Verhandeln. „Ich kann dafür sorgen, dass es sich richtig für Sie lohnt. Und seit wann ist es eigentlich verboten, einen Freund zu besuchen?“

Hogan bearbeitete den Riegel des Tores jetzt mit dem Schaft der Taschenlampe und ein paar deftigen Flüchen. „Glaub ja nicht, dass du mit so ’nem Gesülze weiterkommst – und schon gar nicht bei ihr“, sagte er zu dem Jungen.

Schon gar nicht bei ihr. Früher hätte das wahrscheinlich sogar gestimmt, aber in letzter Zeit hatte sie sich deutlich verändert. Sie hatte angefangen zu fühlen .

Plötzlich kamen ihr bei den kleinsten Kleinigkeiten die Tränen – zum Beispiel, wenn sich ein Kind verletzt hatte oder eine alleinerziehende Frau sich aus ihrer Wohnung ausgesperrt hatte, ganz zu schweigen von den wirklich harten Sachen wie einem Selbstmord oder wenn sie jemanden über den Tod eines Angehörigen informieren musste. Vor einem Jahr – ach was, noch vor einem halben Jahr – hatte sie so etwas noch mit einem Bier im Rosie’s abgeschüttelt.

Doch in letzter Zeit fiel es ihr immer schwerer wegzuschauen und die Unmenschlichkeit, das Absurde und die Verzweiflung abzuschütteln, die ihr auf der Straße begegneten. Diese neue Empfindsamkeit und das daraus resultierende Mitgefühl brachten sie durcheinander und gingen ihr ehrlich gesagt auch auf die Nerven.

„Du brauchst andere Freunde, Boudreaux“, sagte Beck, krempelte den völlig verdreckten Jutebeutel auf und ihr stieg der Geruch von … Exkrementen und Verwesung in die Nase. Sie schreckte zurück, hielt sich die Nase zu und erschrak, als sich der Beutel bewegte.

Mit einem Ruck zog sie ihre Hand zurück, richtete das Licht ihrer Taschenlampe in die Beutelöffnung und sah das schmutzige, wachsame Gesicht eines kleinen, grauen Hundes, der sie mit wässrigen Augen flehend ansah.

„Boudreaux!“, rief Beck entsetzt, ließ sich auf die Knie fallen, nahm den kleinen Hund vorsichtig aus dem abgenutzten Beutel und vor Mitgefühl kamen ihr die Tränen.

Der Hund winselte und jaulte auf, als sie seinen stark geschwollenen Brustkorb abtastete. Das völlig verfilzte Fell hob und senkte sich und das Tier kämpfte um jeden flachen Atemzug.

Sie würde ihn umbringen. Umbringen . „Ach, du süßes kleines Ding. Es tut mir so leid. So leid! Was hat er denn bloß mit dir gemacht?“ Aber das wusste sie eigentlich schon. Sie wusste es.

Sie strich dem Hund mit der Hand über den Rücken und konnte jede Rippe und jeden Knochen fühlen. Wieder jaulte der Hund auf, als sie seinen Bauch berührte. Der Geruch – nach Erbrochenem und Exkrementen – klebte in seinem Fell, an seiner Haut und stieg Beck in die Nase.

„Hey, Cop, der Hund gehört meinem Freund. Hören Sie mir eigentlich nicht zu?“

Beck stand jetzt auf und rückte den noch steifen Hosenbund ihrer neuen Diensthose zurecht. Sie hatte endlich kapituliert und sich eine größere Hose gekauft, um ihrem wachsenden Bauch mehr Platz zu verschaffen.

„Der Hund von deinem Freund also, ja?“

„Sie haben mich genau verstanden. Ich stottere ja nicht.“

Beck zitterte innerlich, obwohl sie die äußere Kälte gar nicht spürte, und ballte ihre Hand zur Faust. „Hast du ihn diese Plastiktüte schlucken lassen?“

Sie hielt einen Gefrierbeutel zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, der genauso bestialisch stank wie der Hund.

„Welche Plastiktüte denn? Ich hab keine Tüte gesehen.“ Seine versnobte Betonung schürte ihren Zorn und ihre Verachtung noch mehr.

In dem Moment gab der Riegel des Gattertores endlich nach, Hogan taumelte rückwärts und ein abgebrochenes Stück Metall landete scheppernd auf dem Beton.

„Ach, sieh mal einer an, die Polizei beschädigt Privateigentum. Das ist doch eine Straftat, oder?“

„Los, auf geht’s“, sagte Hogan nur und zerrte Boudreaux zum Streifenwagen, während der lautstarke Protest des Jungen von den Wänden der umliegenden Gebäude widerhallte.

„Passen Sie bloß auf den Hund meines Freundes auf, Sergeant“, rief Parker, als er sich gleichzeitig gegen Hogans unnachgiebigen Griff wehrte. „Hey, Polizeigewalt!“

Hinter ein paar Fenstern des Mietshauses ging Licht an und irgendjemand rief etwas Unverständliches.

„So, jetzt ganz vorsichtig, mein Kleiner“, sagte Beck zu dem kleinen Hund, aber der jaulte wieder laut auf, als sie versuchte, ihn hochzuheben. „Was hat der fiese Boudreaux bloß mit dir gemacht?“

Wenn man den Hund anschaute, der nur aus Haut und Knochen bestand, dann war klar, dass er kurz vorm Verhungern war. Wieder kamen ihr die Tränen. Diese Art von Gefühlen kratzte an ihrer harten Fassade, an ihrer Gewohnheit, Dinge wie Zartheit, Fürsorge und Anteilnahme zu ignorieren. Sie hatte ihre ganz eigene Methode, mit ihren Gefühlen oder schmerzlichen Erinnerungen umzugehen – sie verdrängte sie. Ja, sogar besser noch, sie vergaß sie einfach.

Aus ihrer Seitentasche holte sie jetzt eine Flasche Wasser, drehte den Verschluss ab und gab dem Hund ein paar Tropfen auf die Zunge. Er schluckte sie und sie gab ihm noch etwas mehr.

„Auf jetzt, Beck, wir müssen los“, sagte Hogan zwischen den Stäben des Gitterzauns hindurch. „Ruf den Tierschutz an. Der kümmert sich dann schon um den Hund.“

Aber Beck reagierte gar nicht. Wie konnte sie den kleinen Hund denn jetzt allein lassen? Er würde mit Sicherheit sterben. Der erbärmliche Zustand des Kleinen berührte sie tief und machte ihr verkrustetes Herz ganz weich. Wo sie sonst früher hart und kontrolliert gewesen war, war sie jetzt weich und sehr emotional.

Die nächtliche Kälte senkte sich zwischen die Gebäude, und der Hund zitterte, sodass Beck ihre Jacke auszog und ihn damit zudeckte, bevor sie ihn mitsamt seinem Geruch nach Tod und Verwesung auf den Arm nahm.

Als sie aufstand und zum Tor ging, schrie das kleine Tier laut auf, und sie wollte verdammt sein, wenn das, was sie da auf ihrer Hand spürte, nicht Tränen des Hundes waren.

„Es tut mir leid. Es tut mir so leid, mein Kleiner. Ich kümmere mich um Hilfe. Bleib einfach bei mir. Drüben auf der Fünfzehnten ist ein Tierarzt …“

Im Inneren des Streifenwagens rief Boudreaux gegen die Fensterscheibe: „Das ist mein Hund. Hören Sie, nur weil Sie Polizistin sind, können Sie noch lange nicht einfach jemandem den Hund klauen.“

„Lebt er noch?“, fragte Hogan und warf einen Blick unter Becks Jacke.

„Nur noch ein ganz kleines bisschen.“ Beck fluchte und trat mit einer solchen Wucht gegen die Autotür, dass Parker zurückschreckte. „Hast du den Hund etwa die Drogen mitsamt der Tüte fressen lassen?“, fragte sie ihn wütend.

Jetzt nahm Hogan den jaulenden Hund auf den Arm und untersuchte ihn im Licht von Becks Taschenlampe etwas genauer. Sie streichelte ihm währenddessen über die Ohren, sagte, dass alles gut werde und kämpfte wieder mit den Tränen. Das Allerletzte, was sie Hogan oder Boudreaux zeigen wollte, war weibliche Emotionalität.

„Er ist wirklich in übler Verfassung, aber ich hab schon Schlimmeres gesehen. Er ist einfach schwach und hungrig“, sagte Hogan. „Hat wahrscheinlich eben die Tüte ausgeschieden. Würde mich nicht wundern, wenn Boudreaux ihm gerade die nächste Ladung verpassen wollte. Oder schlimmer noch, sie ihm in den …“

„So, das reicht!“ Beck zerrte Boudreaux an den Haaren vom Rücksitz des Streifenwagens, schleuderte ihn mit der Vorderseite des Körpers gegen den Wagen, bohrte ihm ihr Knie von hinten in seinen Oberschenkel und drückte sein Gesicht auf den Kofferraumdeckel. „Du glaubst also, dass dein Papi dich wieder rausboxen kann, was?“, fragte sie und knallte sein Gesicht auf das kalte Metall.

„So dürfen Sie mich gar nicht behandeln“, sagte Boudreaux und wehrte sich so heftig gegen ihren Griff, dass sie ihre gesamte Kraft brauchte, um ihn festzuhalten.

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