1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Normalerweise ist es fantastisch, jemandem im Augenblick einer gewichtigen Erkenntnis beobachten zu können. Wenn endlich alle Puzzleteile zusammenfallen und das große Ganze einen Sinn ergibt. Wenn diese Erkenntnis aber ist, dass alle Verwandten und Bekannten seit Jahren tot sind und man nie wieder in seine Heimat zurückkehren kann, dann ist es einfach nur scheiße. Etwa 170 Jahre waren bereits auf Marjas Heimatwelt vergangen, wenn ich den aktuellen Sprung mitrechnete, während der Abflug für uns nur zwei Wochen zurücklag. Ein Rückflug würde ebenso lange dauern. Genau das hatte Marja nun herausgefunden und begriffen.
Ich war zu feige gewesen, es ihr zu sagen, hatte immer auf »den richtigen Moment« gewartet, obwohl ich wusste, dass es ihn nicht
gab. Ich meine – mal ehrlich – wie muss ein Moment beschaffen sein, in dem man mal so nebenbei sagen kann: »Hey, übrigens, du sitzt erstmal hier fest, alles was du bisher kanntest, ist nicht mehr« ?
Die Kabine war verriegelt, aber als Schiffseigner konnte ich die Verriegelung natürlich aufheben. Wäre das richtig, oder ein weiterer Vertrauensbruch? Was sollte ich nur machen?
Ich beschloss, erstmal nichts zu tun. Armselig, oder?
Irgendwann wurde das Weinen leiser, ich möchte fast sagen, erschöpfter. Dann fragte sie durch die Tür: »Hast du meinen Eltern die Nachricht geschickt?«
Ich konnte nur mit einem überraschten »Was?« antworten, und sie schrie mit sich überschlagender und brechender Stimme »Die Nachricht! Dass ich an Bord bin, dass es mir gut geht! Hast du die wirklich geschickt?«
»Ja.«
»Wie lange hat es gedauert, bis sie angekommen ist?«
»Etwa sechs Jahre.«
Das verursachte einen weiteren Weinkrampf, und meine Beschwichtigungsversuche blieben ungehört. Aber was hätte ich denn sagen sollen?
Marja weinte sich (und mich) in den Schlaf. Nach ein paar Stunden schlich sie sich aus der Kabine, holte sich am Assembler etwas zu essen und huschte schnell zurück. Ich stellte mich schlafend, ich wollte sie nicht verschrecken und damit vom Essen abhalten, außerdem wusste ich eh nicht, was ich hätte sagen sollen.
Am nächsten Morgen hörte ich sie in ihrem Raum rumoren und gelegentlich auch schluchzen, aber sie reagierte nicht auf meine Zurufe. Erst zum Mittag kam sie heraus und nahm schweigend am Tisch Platz, um ihre Suppe zu löffeln. Sie sah so elend aus, wie ich mich fühlte.
Eine Weile setzte ich mich dazu und aß ebenfalls, was sie stillschweigend duldete. Dann versuchte ich eine Erklärung.
»Wenn der Sprung einmal initiiert ist, kann man ihn nicht mehr abbrechen. Als ich dich gefunden habe, war es zu spät.«
»Ich weiß. Hab ich nachgelesen.«
»Tut mir leid. Ich wusste einfach nicht, wie ich es dir hätte sagen sollen.«
»Ist schon gut.« War es nicht, das konnte ich am Tonfall hören. Ebenso den Wunsch, ich solle besser die Klappe halten. Also tat ich das.
Von dem lebhaften, neugierigen Kind, als das ich Marja kennengelernt hatte, war während des laufenden Sprunges nicht viel zu sehen. Nur langsam näherten wir uns wieder an, vermieden aber bestimmte Themen. Beim nächsten Stopp reduzierte ich das Geschäftliche auf das absolut notwendige Minimum, so dass wir in zwei Tagen fertig waren. Dann setzte ich Kurs auf das 1000-Jahre-Treffen und übersprang damit die drei folgenden regulären Stopps. Ich brauchte eine Lösung für das Marja-Problem.
Historischer Exkurs, Teil III
Elementarteilchen verbinden sich zu Atomen, Atome zu Molekülen. Diese verbinden sich zu komplexeren Strukturen bis hin zu Einzellern. Viele Einzeller bilden einen Organismus. Hochentwickelte Organismen gründen soziale Gruppen, die sich wiederum zusammenschließen und Staaten bilden. Auf jeder Ebene gibt es Botenstoffe, die die Einzelteile verbinden – seien dies Elektronen, Hormone, Worte oder Briefträger. Und auf jeder Ebene erschafft der Zusammenschluss etwas Neues, noch nie da gewesenes.
Wir sind inzwischen auf der interstellaren Ebene angekommen, und die Verbindung zwischen den einzelnen Planeten stellen wir Fernhändler dar. Nicht ohne Grund benennen wir unsere Schiffe »Axon« oder ähnlich – das Axon ist der lange schlauchförmige Fortsatz von Nervenzellen, mit dem sie die anderen Nervenzellen erreichen und Kontakt halten. Was konkret dieser riesige Zusammenschluss von besiedelten Planeten darstellt? Das wissen wir nicht, aber ebenso wenig weiß das Elektron, was ein Molekül ist.
Seit die Fernhändler ihre Touren fliegen und regelmäßig Welten mit einer Infusion neuer und vergessener Geschichten und Ideen versehen, sind nachweislich die Fälle seltener geworden, in denen sich eine Kolonie selbst auslöscht. Dunkle Zeitalter sind im Schnitt kürzer und weniger heftig, wir haben also in jedem Fall einen positiven Einfluss. Und keine Idee ist zu abstrus, als dass sie nicht auf irgendeiner Welt bis zur Gänze ausprobiert und erforscht wird, so dass man sie dann getrost verwerfen oder in das galaktische Erbe aufnehmen kann. Außerdem sorgt der Shakespeare-Effekt (benannt nach einem alten Schriftsteller von der Heimatwelt) für eine annähernd gleiche Sprache auf allen Welten, wenn die Sprachverschiebungen stets wieder zurückjustiert werden.
Wir Fernhändler koordinieren uns, und das ist bei den Gegebenheiten keine leichte Angelegenheit. Ein zufälliges Zusammentreffen ist extrem unwahrscheinlich. Kaum eine Gesellschaftsform übersteht mehr als 500 Jahre, was also einst ein sicherer Treffpunkt war, kann nun eine atomare Wüste sein, in der Bücherleser erschossen werden.
Also wurden die 1000-Jahres-Treffen eingeführt. Alle 1000 normalen Jahre treffen wir uns an einem bestimmten Ort. Ausrichter ist ein gigantisches Trägerschiff, welches selbst die Zwischenzeit auf Lichtgeschwindigkeit verbringt, so dass wir stets eine gewohnte Umgebung, technologisch kompatible Werften und bekannte Gesichter antreffen.
Eine Tour aus zwölf Sprüngen dauert für mich etwa 24 Pewochs und führt mich kreisförmig zum 1000-Jahres-Treffen zurück. Gefällt es mir irgendwo besonders gut, bleib ich auch mal einen Monat oder ein Jahr dort. Im Schnitt verbrauche ich im Verlauf der 1000 Jahre etwa acht bis zwölf Monate meiner Lebenszeit. Zum Ende ist immer etwas Puffer, da fliege ich dann einen kleinen Umweg in Lichtgeschwindigkeit, um die fehlenden Jahre aufzubrauchen, während für mich keine Zeit vergeht. Schlussendlich kommen wir stets punktgenau zum Treffen an.
Unsere Zusammenkunft ist nur eine von vielen. Manche Piloten reisen zwischen den verschiedenen Treffen hin und her
und verbinden dadurch diese Knotenpunkte. Das Universum ist unglaublich groß! Und wenn du glaubst, 1000 Jahre Geschichten einer Welt sind bereits beeindruckend, dann überschlag einmal, welche Mengen an Daten auf einem 1000-Jahre-Treffen umgeschlagen werden …
Auf dem Zusammenkünften koordiniert man die Routen für die nächsten 1000 Jahre, so dass alle Planeten immer mal wieder besucht, neue Systeme erforscht und Mehrfachbesuche in kurzer Zeit vermieden werden. Dabei ist alles freiwillig, niemand ist gezwungen, zu den Treffen zu kommen oder exakt diese Welten anzufliegen. Es hat sich einfach als ungeheuer praktisch erwiesen. Und es tut unglaublich gut, hin und wieder bekannte Gesichter zu sehen und Freundschaften mit Menschen zu schließen, die nicht beim nächsten Sprung von der Zeitdilatation gefressen werden.
Ich glaube, wir werden auf dem Treffen eine gute Möglichkeit finden, dich irgendwo unterzubringen.
Man ist als Reisender ja viel gewohnt, aber der Empfangsball des 1000-Jahre-Treffens war an Opulenz kaum zu übertreffen. Was sich hunderte von Welten in Millennien ausdenken können, wurde hier zur Wirklichkeit. Ich war jedes Mal überwältigt und stolz, ein Teil davon sein zu dürfen.
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