Die Autorität „heiliger“9 Schriften
In der rabbinischen Tradition findet sich die Geschichte eines jungen Flüchtlings, der in eine Stadt kommt, deren Bewohner ihn bereitwillig aufnehmen und verstecken. Dann kommen Soldaten auf der Suche nach dem Flüchtling, doch die Bewohner der Stadt behaupten, von nichts zu wissen. Die Soldaten schöpfen Verdacht und kündigen an, die ganze Stadt in Schutt und Asche zu legen, wenn der Flüchtling nicht bis zum nächsten Morgen ausgeliefert wird. Voller Angst kommen die Menschen zu ihrem Rabbi, um ihn um Rat zu fragen. Tief besorgt beginnt er, in der Schrift nach einer Antwort zu suchen. Die ganze Nacht liest er, ohne etwas zu finden. Kurz vor Sonnenaufgang fällt sein Blick auf den Satz: „Es ist besser, dass einer für das ganze Volk stirbt, als dass alle zugrunde gehen.“10 Er ist sich sicher, dass das die Antwort ist und kommt damit zu den Stadtbewohnern. Sie sagen den Soldaten, dass der junge Mann tatsächlich bei ihnen versteckt ist und er wird abgeführt. Der Rabbi aber ist nicht beruhigt. Er setzt sich nochmals über seine Bücher. Ein Engel erscheint und fragt ihn, was er für ein Problem habe. „Ich bin mir einfach noch nicht sicher, ob es richtig war, den jungen Mann auszuliefern“, sagt der Rabbi. Der Engel antwortet: „Wusstest du nicht, dass das der Messias ist?“ Ungläubig schaut ihn der Rabbi an: „Wie hätte ich das wissen können?“, fragt er. „Hättest du dir die Zeit genommen, den jungen Mann aufzusuchen und ihm in die Augen zu schauen, anstatt in den Schriften zu suchen“, entgegnet der Engel, „hättest du gesehen, dass er der Messias ist.“ Wer die Schrift, aus der der Rabbi liest, vom Leben loslöst, verzerrt ihren Inhalt. Wer die Geschichten von den Menschen loslöst, zu deren Zeit sie entstanden sind, versteht sie falsch. Die Autorität „heiliger“ Schriften liegt darin, dass sie über sich selbst hinaus verweisen auf Menschen und die Geschichte ihrer Erfahrungen. Wer das Buch zum Götzen macht, macht die Worte zur letzten Wahrheit und kommt in Schwierigkeiten, so wie der Rabbi in der Geschichte. Wo Schriften und Regeln wichtiger werden als die konkrete Not eines Menschen, verkommt die Sorge um das Wohl eines Menschen zum Lippenbekenntnis.
Eugen Drewermann warnt an vielen Stellen seines umfangreichen Werkes, dass eine Auslegung heiliger Texte, die in der historischen Distanz des gelehrten Bildungswissens daherkommt, von der unmittelbaren Ergriffenheit nichts transportieren könne und in ihrem ganzen Wesen unreligiös und zum Zeugnis gegen sich selber verkommen müsse. Geschichten berühren uns dann, wenn sie uns innerlich anrühren, wenn statt Erinnerung „Verinnerung“ möglich wird; statt „Begriffenhaben“, „Ergriffensein“. Alles andere wäre Heuchelei und Mummenschanz.11
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