Immer geht es dabei um Ermutigung, um „Zumutung von innen her“, um das Feuer innerer Bereitschaft und wenn nötig um einen radikalen Perspektivenwechsel. So können im Menschen schlummernde Selbstheilungskräfte aktiviert und neue Ziele ins Auge gefasst werden. Selbst dem hochbetagten Abraham gelingt es so noch, aufzubrechen, aus der gewohnten Umgebung wegzuziehen und einen ganz neuen, seinen unverwechselbar eigenen Weg zu gehen. Wer so die Bibel liest, wird staunen, wie erfrischend jung sie ist, was sie den Abenteurern des Lebens auch heute noch zu bieten hat. Sie ist „heilige“ Schrift im Sinne von „heilender“ Schrift, sie „gehört“ nicht nur Juden und Christen, sie ist als gebündelter Erfahrungsschatz Kulturgut der Menschheit und offen für alle, die bereit sind, in diesen Erfahrungsschatz einzutauchen.
Die ermutigende Kraft biblischer Texte ist seit Jahren eine immer wieder auftauchende Begleitmelodie meiner therapeutischen Arbeit. Und das Erstaunliche dabei liegt darin, dass nicht ich als Theologe die Sprache darauf bringe, sondern meine Patienten, die nicht selten dabei auf das kleine Kreuz in der Praxis Bezug nehmen, das manche irritiert, viele erstaunt und von kaum jemandem nicht beachtet wird: Der Konzeptkünstler Werner Hofmeister hatte zunächst für die vierte Klasse einer Volksschule, also für Schüler kurz vor dem „Absprung“ in einen neuen Lebensabschnitt, eine Skulptur geschaffen, die den Gekreuzigten am oberen Rand des Längsbalkens als Abspringenden zeigt. Auf dem Querbalken steht das Wort „springboard“ – „Sprungbrett“ beziehungsweise, wie in der monumentalen Ausführung dieses Werkes am Fuß des Grazer Kalvarienberges, „tabula saltandi“ – „Tanzboden“. Dieses kleine, von vielen als ungewöhnlich empfundene Kreuz ist mir ein stimmiges Symbol für den beherzten Mut, den ein Mensch braucht, damit sein Leben „gelingen“ kann.
Mit „gelingen“ ist hier weit mehr gemeint als „Erfolgreich-Sein“, es meint jene geheimnisvolle und von außen nicht steuerbare Erfahrung, dass Rückschläge, Enttäuschungen, selbst aussichtslos scheinende Situationen im Leben nicht einfach hingenommen und in Demut ertragen werden müssen, sondern „von innen her“ betrachtet zum Sprungbrett, vielleicht sogar nach und nach zum Tanzboden für unerwartet neue Möglichkeiten werden können. In Blickrichtung auf dieses Kreuz sieht der Betrachter in meiner Praxis auch einen kleinen, mir geschenkten Schuh, der unserem Patenkind Samuel zu klein geworden war …
Kaum besser kann ich symbolisch zusammenfassen, worum es in meiner täglichen Arbeit geht, nämlich um die Beseitigung seelischer Leidenszustände und dabei immer zuallererst wohl darum, einem Menschen, der Hilfe sucht, wieder auf die Sprünge zu helfen, ihm beizustehen, damit er wieder festen Boden unter seine Füße und den Mut bekommt, aufzustehen und unter einer anderen Perspektive weiterzugehen. Oder anders gesagt: Es geht darum, einem Menschen, der, aus welchen Gründen auch immer, auf den Wegen seines Lebens den alten Schuhen entwachsen ist, bei der Suche nach „neuem Schuhwerk“ behilflich zu sein. Letztlich geht es im besten Sinn des Wortes um „Auferstehung“, um die Befreiung aus der Erfahrung des „Aufs-Kreuz-gelegt-und-angenagelt-Seins“, es geht um einen Ausweg aus vermeintlicher Ausweglosigkeit, um Hoffnung in zunächst bedrückender Hoffnungslosigkeit. Es geht um das, was Augustin von Hippo in einer seiner großen Reden seinen Zuhörern zuruft: „Sei, der du bist und wachse voran, ein anderer zu werden, als du bist! Denn wo du Halt machst, bleibst du stehen und wenn du sagst ‚Ich habe genug geleistet‘, bist du verloren!“
Auf der Suche nach neuen Lebensperspektiven die Bibel so in die Hand zu nehmen und zu lesen, erscheint vielen Menschen suspekt. Sie möchten nicht in ein falsches Licht geraten, religiös punziert oder vorschnell als harmlos abgestempelt werden. Mit biblischen Texten macht sich ein Therapeut verdächtig, der Religion sozusagen durch die Hintertür zum Durchbruch zu verhelfen, als ginge es ihm in erster Linie um die Religion und nicht um den Menschen, dem auch die Bibel mit ihrem Erfahrungsschatz helfen könnte.
Dazu kommt, dass Religion im Moment so etwas wie der Stachel im Fleisch vieler zu sein scheint. „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Religion“, hat der Philosoph Peter Sloterdijk vor einigen Jahren schon formuliert und damit einer eigenartigen Angst Ausdruck verliehen. Unbestreitbar ist, dass Religionen natürlich auch gefährlich sein können und in ihrer politischen Gegenwart mit fundamentalistischer Erregungskraft wie ein Sprengkopf wirken. Mit der Religion steht etwas Unkontrollierbares im Raum. Das zeigt sich an der Empfindlichkeit „hochreligiöser“ Menschen. Wer Gott beleidigt, verletzt heiligste Gefühle und damit diejenigen, die an ihn glauben. Darum muss hier unmissverständlich gesagt werden, dass in diesem Buch zwar oft in der Sprache der Bibel von „Gott“ geredet wird, damit aber nicht die Gottesfrage im eigentlichen Sinn behandelt werden will. Gott wird hier weder bewiesen noch geleugnet, sondern als biblischer Ausdruck für innere Verankerung, Orientierungshilfe und persönlichen Halt wertgeschätzt.
Auch die fundamentale Bedeutung des Ersten und Zweiten Testaments für das Judentum und Christentum ist nicht das Anliegen dieses Buches, vielmehr die in beiden Testamenten verborgene tiefe Weisheit und ein Erfahrungsschatz, der die Bibel über alle religiösen Grenzziehungen hinaus als Lehrmeisterin des Lebendigen ausweist. „Die Wahrheit“, hat jemand gesagt, „ist symphonisch“5, ein Zusammenklang aus vielen Einzelstimmen; dabei ist jede Stimme wichtig und wertvoll, weil sie aus dem Leben, aus konkret-persönlicher Lebenserfahrung kommt. Unterschiede bedeuten dabei nicht Trennung, sondern verschiedene Farben von Wahrheit. Ein Ausspruch des altindischen Herrschers und Buddhisten Ashoka bringt die buddhistische Ansicht auf den Punkt:
„Wer seiner eigenen Religionsgemeinschaft Ehre erweist und die Religionsgemeinschaften anderer verachtet, allein aus Anhänglichkeit gegen die eigene, mit der Absicht, den Glanz der eigenen zu erhöhen, der fügt in Wahrheit seiner eigenen Gemeinschaft schwersten Schaden zu.“6
Nicht weniger beeindruckend ist das Wort von Mahatma Gandhi:
„Ich glaube an die Bibel, wie ich an die Gita glaube. Ich halte alle die großen Glaubensbekenntnisse der Welt für ebenso wahr wie mein eigenes. Es tut mir weh zu sehen, wann immer eines von ihnen verzerrt wird.“7
Wer die Bibel mit solchen Augen zu lesen versucht, wird Berührungsängste ablegen und staunen können, wie modern das älteste Buch der Welt ist, wie ewig jung und aktuell seine Perspektiven erscheinen. Diese bündeln sich in einem Anleiten zum „Weise-werden im Raum der Güte“8, wobei die Sorge um die Identität des Einzelnen und sein Wohlergehen als Grundlage für eine tragfähige Gemeinschaft an erster Stelle stehen.
Das Individuum steht also im Zentrum der Betrachtung. Um diese Identität zu schaffen und zu stärken, gibt es zumindest drei große Erzählstränge in der Bibel. Der Erste zeigt zunächst einmal einen Weg aus der Sklaverei in die persönliche Freiheit auf, der Zweite kümmert sich um das von den Propheten eingemahnte Thema der Reinigung, Klärung, Korrektur und Klarheit und der Dritte legt den Schwerpunkt auf die Erfahrung der Sinn- und Identitätskrise beziehungsweise deren Bewältigung. Biblische Sinn- und Krisenbewältigung erfolgt aber nicht durch beeindruckende Heldentaten, sondern durch persönliche Erfahrungen aus Beispielgeschichten. Dem Leser der Bibel wird rasch klar, dass der biblische Mensch kein gefinkelter Theologe, sondern ein bodenständiger Praktiker ist, der bei allen Unterschieden zum heutigen Menschen zumindest darin mit ihm vergleichbar zu sein scheint, dass auch er schon durch ein vielseitiges Überangebot von Lebensgestaltungsmöglichkeiten verunsichert, gebeutelt und verwirrt ist, nach Orientierung Ausschau hält und oft nur sinnlose Leere ohne Hoffnung und Begeisterung vorfindet.
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