Es geht beim sexuellen Missbrauch um willentliche sexuelle Handlungen, wobei über die Geschlechtsorgane sexuelle Befriedigung herbeigeführt werden soll. Zwischen Opfer und Täter besteht in der Regel keine Freiwilligkeit. Den sexuellen Missbrauch gibt es nicht, denn die Praxis zählt viele unterschiedliche Formen sexuellen Missbrauchs auf. Sexueller Missbrauch geschieht am häufigsten zwischen Erwachsenen und Kindern, aber er findet auch zwischen Erwachsenen und Verheirateten statt. Die wichtigsten Missbrauchsfälle sind:
Erwachsene oder ältere Jugendliche befriedigen sich am Körper eines Kindes oder lassen sich von Kindern befriedigen;
homosexuelle Männer als Erzieher oder Aufsichtspersonen befriedigen sich an männlichen Jugendlichen;
heterosexuelle Männer als Erzieher oder Aufsichtspersonen befriedigen sich an Kindern und Jugendlichen weiblichen Geschlechts;
Männer unterschiedlichen Alters erpressen Mädchen oder Frauen, um sich dann an ihnen zu befriedigen;
verheiratete Männer vergewaltigen ihre Partnerinnen;
sexueller Missbrauch beginnt schon, wenn Väter, Stiefväter oder Großeltern intime Küsse verabreichen, um unter Umständen später mehr zu erreichen;
das Beobachten eines Kindes oder Jugendlichen beim Baden, Waschen oder Umziehen ist Voyeurismus. Der Voyeur (franz. = Zuschauer) reagiert aus sexuellem Reizhunger; Voyeurismus ist eine Perversität (perversus = verkehrt);
die Pornografie gehört in den Blickwinkel des sexuellen Missbrauchs. Das Anschauen von pornografischen Bildern ist nicht selten Ansporn und Anregung für sexuellen Missbrauch;
das Zeigen der eigenen Geschlechtsorgane ist Exhibitionismus. Es handelt sich ebenfalls um eine Perversität;
sexuelle Gewalt findet auch da statt, wo junge Menschen sich bedrängt fühlen, pornografische Bilder oder Filme anzuschauen;
wenn im Internet jemand mit obszönen Sätzen oder mit „sexueller Anmache“ belästigt wird.
Die Zweischneidigkeit des Begriffs
Wo beginnt der Übergriff?
Wo sind Handlungen fragwürdig?
Was ist erlaubt, was ist verboten?
Die Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf hat einige Situationen geschildert, die unterschiedlich bewertet werden können:
Ein Vater badet mit seiner neunjährigen Tochter.
Ein Onkel gibt seiner fünfjährigen Nichte einen Zungenkuss.
Eine Mutter lässt sich von ihrem zehnjährigen Sohn – nur mit Slip bekleidet – massieren.
Ein Busfahrer bittet eine vierzehnjährige Schülerin, ihn im Lendenbereich zu kratzen, er müsse ja mit beiden Händen den Bus steuern.
Ein Dreizehnjähriger fasst seiner vierzehnjährigen Schwester zwischen die Beine.
Ein Fünfjähriger fordert im Kindergarten ein gleichaltriges Mädchen auf, ihm „einen zu blasen“.
Die Diskussionen darüber, was sexueller Missbrauch genau ist und wie man ihn definiert, führen Experten bis heute. Eine einheitliche Definition gibt es nicht. Zum Beispiel ist sexueller Missbrauch unter Gleichaltrigen vorstellbar, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich weit die geistige und körperliche Entwicklung von zwei Fünfzehnjährigen sein kann.1
Das heißt:
ein Kind kann nicht überschauen, worum es dem Erwachsenen geht;
ein Kind weiß nicht, was Erwachsene unter Sexualität verstehen;
ein Kind vertraut dem Erwachsenen, weil es nicht weiß, was er will.
Sexueller Missbrauch vom Vater an der eigenen Tochter Ein Beratungsbeispiel. Eine Zwanzigjährige erscheint in der Beratung. Ich nenne sie Manuela.
Bevor sie zu sprechen anfängt, rollen die Tränen. Sie ist hin und her gerissen.
„Ich stecke in einer schrecklichen Zwickmühle. Ich bin jahrelang von meinem Vater geliebt, nein, missbraucht worden. (Die junge Frau schüttelt den Kopf und ist selbst über den ungewollten Versprecher entsetzt.) Mit 17 oder 18 habe ich mich bekehrt und wurde Mitglied in einer Gemeinde. Von einigen Gemeindeältesten, auch zwei Frauen waren darunter, wurde ich gründlich befragt. Und ich habe denen ehrlich gestanden, dass mein Vater mich bis zum Alter von 16 laufend missbraucht hat.“
Sie verdeckt ihr Gesicht. Die Beichte ist ihr höchst peinlich. Danach hätte sie einen eigenen Freund kennengelernt, und die sexuellen Beziehungen zum Vater waren beendet worden.
„Aber“, sie rafft sich wieder auf, „die verantwortlichen Leute in der Gemeinde haben mich aufgefordert, meinen eigenen Vater anzuzeigen. Ich wollte nicht, aber sie gaben keine Ruhe. Solche Verbrechen dürften nicht verschwiegen werden.“ Der ganze Körper der jungen Frau ist in Aufruhr.
„Schweren Herzens habe ich das getan. Aber seitdem ist mein innerer Friede verschwunden. Meinen Vater habe ich geliebt, und er hat mich geliebt. Seine Ehe war kaputt. Mutter war unausstehlich.“
Wieder wird sie von Weinkrämpfen geschüttelt.
„Und jetzt muss ich damit rechnen, dass er jahrelang ins Gefängnis kommt. Er muss alles ausbaden, und ich bin frei. Mir haben die Gemeindeleute im Namen Jesu Vergebung zugesprochen. Natürlich habe ich die Sünde bereut, und mein Vater?“
Sie schüttelt ungläubig den Kopf.
„Der Vater sei allein schuldig, haben sie auch auf dem Gericht gesagt, ich trüge nicht ansatzweise eine Mitschuld. Ich sei verführt worden, und gegen seine Überlegenheit hätte ich mich nicht wehren können. Aber ich weiß doch, was ich gefühlt habe!“
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