„Was machen Sie hier?“
Marc heuchelte Überraschung, antwortete in der deutschen Sprache, irritierte den Frager.
„Was haben Sie gesagt? Ich verstehe nicht, kann kein Englisch.“
Der winkte nur ab, begab sich zurück zu seinem Vorgesetzten, während Marc sich schnell zurückzog. Völlig durcheinander kehrte Marc an seinen Platz zurück.
War das jetzt ein Mordauftrag? Ich muss irgendwas unternehmen!
Er weckte seinen Sitznachbarn Gerhard und erzählte ihm von seinen Beobachtungen. Gerhard weckte wiederum Hartmut. Alle drei beratschlagten die weitere Vorgehensweise. Insbesondere Hartmut wiegelte ständig ab und verharmloste den Vorfall, er wollte auf keinen Fall die Reise gefährden.
Marc stand schließlich mit seiner Meinung alleine. Er konnte sich damit, alles einfach so zu lassen wie es ist, überhaupt nicht anfreunden. Zuerst musste er wissen, wo dieses Jade City lag. In seinem Reiseführer wurde er schnell fündig. Der winzige Ort lag ganz in der Nähe von Watson Lake, ihrem Reiseziel. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Natürlich, die beiden Männer wollen nach Watson Lake, dann ist die junge Frau jetzt in Jade City. Er nahm sich vor, nach Jade City zu gehen und die junge Frau zu suchen, egal was seine beiden Freunde dazu meinten.
In Vancouver angekommen, hielten sie sich fast drei Stunden im Flughafenbereich auf, um direkt den Anschlussflug nach Whitehorse zu nehmen. Whitehorse, ein moderner viel zu großer Flughafen für eine Stadt mit 18000 Einwohnern, ist eine Drehscheibe im äußersten Norden Kanadas. Dort angekommen suchten sie zuerst ihr gebuchtes Hotel auf.
Am Abend im Hotel beim Abendessen war Marc sehr einsilbig, während seine beiden Freunde dem Aufbruch förmlich entgegen fieberten. Marc dagegen beschäftigte vorrangig immer noch das Gespräch im Flugzeug, dessen Zeuge er geworden war. Am liebsten wäre er sofort nach Watson Lake aufgebrochen, doch ihr Bus fuhr erst am nächsten Morgen.
Hartmut ergriff schließlich die Initiative, sein Desinteresse bereitete ihm Sorge. Jedoch interpretierte er dies vollkommen falsch. Hartmut dachte eher an einen Rückfall von Marc.
„Mensch Marc, freust du dich nicht auf die Tour. Was ist los? An was denkst du?“
Marc schreckte aus seinen Gedanken auf, er wollte seine beiden Freunde nicht beunruhigen.
„Klar freu ich mich, ich bin nur ein bisschen müde. Wann fährt der Bus?“
Der Bus, ein Greyhound, brauchte knapp sechs Stunden bis Watson Lake. Früh am Morgen fanden sie sich am Busbahnhof ein. Ein typischer silbergrauer Bus stand vor ihnen, das Logo des rennenden gestreckten Hundes an der Front aufgemalt. Das Gepäck verschwand im riesigen Stauraum des Busses. Die Fahrt war sehr entspannend und der Bus selbst außerordentlich komfortabel mit viel Fußraum. Die Fahrtstrecke ging über den berühmten Alaska Highway Nr. 1. Auf freier Strecke stoppte der Bus plötzlich.
Über Lautsprecher drang die Stimme des Busfahrers krächzend durch das Mikrofon: „Sehr geehrte Fahrgäste, leider müssen wir eine nicht geplante Zwangspause einlegen, eine große Herde Karibus wird gleich den Highway kreuzen. Wer will, kann fotografieren.“ Schon schwang die Tür auf die Seite und die ersten Fahrgäste liefen ins Freie. Marc und seine Freunde mit gezückten Fotoapparaten hinterher.
Die ersten Tiere traten vorsichtig aus dem Wald, so als ob sie sich zuerst überzeugen wollten, ob die Straße auch tatsächlich frei war. Drei prächtige Exemplare, eines davon besonders groß mit braunem Fell und heller fast weißer Halskrause betraten die Straße und … blieben stehen. Alle drei besaßen riesige Geweihe mit gewaltigen Schaufeln an den Enden. Bei den Fahrgästen surrte und klickte es ununterbrochen. Was für ein Schauspiel, als auf breiter Front hunderte von Tieren den Wald verließen und den Leittieren folgten. Die setzten sich gemächlich in Bewegung und verschwanden im lichten Wald auf der anderen Seite der Straße. Eine gewaltige Staubwolke hüllte die Tiere ein, ein nicht endend wollender Strom querte den Highway, wahrscheinlich waren es Tausende. Fast alle Fahrgäste waren ausgestiegen, um sich dieses einzigartige Spektakel anzusehen.
Für Marc und seine Freunde sollte dies das einzige Mal bleiben, bei der sie eine solche Anzahl zu Gesicht bekamen. Im weiteren Verlauf der Fahrt trottete eine Braunbärenmutter mit zwei Jungtieren gemächlich über die Fahrbahn, auch hier musste der Bus stoppen, nur durfte dieses Mal keiner der Passagiere den Bus verlassen.
Nach jeder dieser Unterbrechungen stieg der Lautstärkepegel im Bus stark an, gekrönt durch eine Ansage des Busfahrers: „Sehr geehrte Fahrgäste, wollen Sie Wild Life sehen, fahren Sie mit dem Greyhound und Sie sehen jedes Mal Tiere, versprochen!“ Endlich, nach sechs Stunden Fahrzeit erreichten sie ihr Hotel in Watson Lake.
Hier hatten sie einen zusätzlichen Tag Aufenthalt geplant, um sich zu akklimatisieren. Marc jedoch packte noch nicht einmal seine Sachen aus, sondern orderte über die Hotelrezeption einen Mietwagen und fuhr mit diesem ohne sich mit seinen Freunden abzusprechen die fast 100km bis Jade City. Der Ort bestand im Prinzip aus zwei Geschäften, deren einer Produkte aus Jade verkaufte.
Marc stürmte in den ersten, fragte die Verkäuferin zu der von ihm gesuchten Person aus. Die konnte ihm jedoch nicht weiterhelfen. Hoffnungslosigkeit übermannte ihn.
War wohl doch eine Schnapsidee, hierher zu fahren und nach einer Frau zu suchen, von der ich nichts weiß.
Er überlegte nochmals, wie er fragen sollte und machte sich wenig zuversichtlich auf in den zweiten Laden. Am Tresen stand eine ältere Frau, die ihn beim Betreten sogleich freundlich begrüßte.
„Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?“
Marc räusperte sich, „ich suche eine junge Frau indigener Abstammung, die aber nicht von hier ist. Haben Sie eine solche Frau hier gesehen?“
Die Frau schaute den jungen Mann verständnislos an. Sie konnte wohl mit dem Ausdruck „indigen“ nichts anfangen, wahrscheinlich falsch übersetzt, dachte er bei sich. So versuchte er es erneut.
„Sorry, ich meine eine junge Frau der First Nations .“
Noch immer reagierte sie nicht, im Gegenteil, misstrauisch fragte sie ihn: „warum suchen Sie diese Frau?“
Marc sah ein, dass er wohl etwas mehr sagen musste, er überlegte und sprach dann leise weiter.
„Sie schwebt in großer Gefahr! Ich muss sie unbedingt warnen, ich will sie schützen. Bitte glauben Sie mir. Haben Sie diese Frau gesehen?“
Die Frau schwieg und blickte Marc lange genau an, seine Augen bettelten um Hilfe.
„Kennen Sie diese Frau?“, wollte sie wissen. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, ich habe nur unabsichtlich ein Gespräch belauscht. Und da haben zwei Männer sie bedroht. Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist, geschweige denn, wie sie aussieht.“
Für die Frau eine unglaubliche Geschichte. Aber warum sollte er lügen? Sie überlegte, lächelte ihn breit an.
„Dann gehen Sie mal da hinten in den rechten Gang zwischen den Regalen, das müsste sie sein.“
Er bedankte sich, wollte noch wissen, ob ihr hier Männer aufgefallen waren, die sich auffällig benahmen und ebenfalls Fragen stellten. Das verneinte sie. Sie meinte nur, bei den vielen Touristen passe sie nicht mehr auf. Er ging schnell in den hinteren Bereich des Ladens und sah vor sich eine zierliche höchstens 165 cm große junge Frau mit glatten langen schwarzen Haaren, die ihr weit über die Schultern, fast bis zur Hüfte fielen. Bekleidet war sie mit einer Jeans und einem eng anliegenden langärmligen dunkelgrünem Sweatshirt. Er verlangsamte seinen Schritt und trat an sie heran.
„Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie anspreche …“
Sie drehte sich zu ihm um, Marc konnte seinen Satz nicht mehr zu Ende reden. Er stockte, schluckte. Rehbraune Augen schauten zu ihm auf, ein offenes freundliches Lächeln empfing ihn und er hörte eine glockenhelle Stimme. „Ja bitte, was gibt es denn?“
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