Jeder ging seinen Aufgaben nach. Ahmik wollte was Besonderes fangen und kletterte den Bachlauf hinauf. Gerhard inspizierte die Lebensmittel und kam breit grinsend zu dem Schluss, dass diese ausreichend seien und noch über eine Woche halten würden. Hartmut sammelte Holz, musste dafür weite Wege gehen, Marc half ihm dabei. Doch heute kam Ahmik mit leeren Händen zurück. Hartmut weigerte sich zu kochen, hielt sich von allen abseits.
Nach dem Essen. Ahmik saß am Ufer, warf Steine ins Wasser. Marc ging langsam auf ihn zu und blieb seitlich von ihm stehen.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Mit einer Handbewegung forderte er Marc auf, sich hinzusetzen. Schweigend saßen sie einige Minuten nebeneinander, bis Ahmik die Initiative ergriff.
„Wenn du etwas von mir willst, dann sag es.“
„Ahmik, ich liebe deine Schwester. Ich will dich nicht zum Feind haben.“
„Shonessi liebt dich auch, ich will dir nur eins sagen: sie ist sehr spontan und sehr flatterhaft. Hat sich bis jetzt noch nie an jemanden binden können. Ich kann dich noch nicht akzeptieren.“ Er lächelte Marc zum ersten Mal an. „Du machst dich aber ganz gut. Shonessi hat mir erzählt, wie du deine Verfolger auf dem Highway ausgetrickst hast, das war sehr gut. Mein Respekt.“
„Ich hatte auch Glück.“
„Mag sein. Das gehört mit dazu, noch mehr aber ein klarer Kopf und Cleverness. Und hier auf dem Fluss scheinst du ja ein Ass zu sein.“
„Ahmik, ich habe Angst um Shonessi. Schau mal, mit was für einem Einsatz die uns suchen. Nur verstehe ich nicht, warum Shonessi und nicht dich?“
„Das ist einfach, ich habe mich an dem Widerstand bisher nicht beteiligt.“
„Wie, ich verstehe nicht.“
„Kannst du auch nicht. Dann pass mal auf.“
Er erzählte von dem Widerstand seines Vaters gegen den Glenconan Konzern, von dem Kahlschlag der riesigen Wälder in der Nähe von Yellowknife und dem Widerstand der Bewohner. Shonessi hatte sich ohne Wenn und Aber der Bewegung angeschlossen und war trotz ihres jugendlichen Alters zu einer wichtigen Leitperson geworden. Er, Ahmik, hatte sich aus allem bisher herausgehalten.
„Das ist meine Geschichte, ich bin kein Held und will auch keiner sein. Die sterben nämlich immer alle viel zu früh.“
„Ahmik, das ist für mich in Ordnung, jeder muss für sich selbst entscheiden …,vielleicht könnten wir ja doch Freunde werden. Lass es uns wenigstens versuchen.“
„Okay, einen Versuch ist es wert.“
Shonessi hatte sich abseits auf eine kleine Halbinsel gesetzt. Sie wollte nachdenken. Sie dachte an Marc, den sie nur Lakota nannte.
Liebe ich ihn wirklich? Oder ist es mal wieder eine Anfangseuphorie wie bisher immer?
Sie legte sich flach auf den Kies und kaute dabei an einem kleinen Zweig.
Hartmut schob die Zweige leise auf die Seite. Direkt vor ihm, auf dem Rücken lag sie, sein Alptraum. Prüfend schaute er den Fluss hinauf. Ahmik und Marc waren weit weg und Gerhard schlief bereits. Auf diese Gelegenheit hatte er lange gewartet. Mit einem Mal sprang er aus der Deckung des Unterholzes, packte Shonessi von hinten an den Haaren und betäubte sie mit einem gezielten Schlag auf den Kopf. Er griff ihr unter die Achseln und zog sie ins Unterholz, riss ihr das T-Shirt vom Leib und versuchte ihr die Jeans auszuziehen.
Shonessi erwachte, sah Hartmut über sich und wollte schreien. Der hielt ihr den Mund zu und versuchte seinen Stock zu greifen, mit dem er schon einmal zugeschlagen hatte. Shonessi biss ihm in die Hand, er schrie auf, richtete sich gleichzeitig auf.
„Ich bring dich um, du verdammte Schlampe.“
„Hast du das gehört, war das nicht ein Schrei?“
Beide lauschten, nichts geschah.
„Gott sei Dank war es keine Frauenstimme.“
„Wahrscheinlich nur ein Kauz.“
Marc setzte sich wieder hin
Doch die Hand war weg vom Mund und so schrie sie aus Leibeskräften.
„Hilfe, Hiilfee, Lakota, hilf mir!“
In diesem Augenblick drückte Hartmut ihr auf den Mund und begann sie mit der anderen Hand zu würgen.
Marc schnellte hoch, rannte ohne auf Ahmik zu achten, sofort in Richtung des Hilferufes.
Das kann nur einer sein, Hartmut. Wehe, du hast ihr etwas angetan. Ich bring ihn um.
Er blieb stehen um zu lauschen, hörte links neben sich das Knacken von Ästen und das Rascheln von Laub. Sprang mit einem Satz ins Unterholz, erkannte Hartmut, umklammerte ihn ohne Vorwarnung am Hals und drückte zu. Hartmut strampelte, versuchte sich zu befreien. Marc zog ihn aus dem Unterholz auf den Strand und warf ihn in einer Drehung auf den Boden.
Shonessi hielt sich den Arm vor die nackte Brust, ihr Gesicht war zerkratzt. Auch Ahmik war inzwischen eingetroffen und versetzte Hartmut einen heftigen Faustschlag ins Gesicht. Schließlich kam noch Gerhard mit hinzu.
„Lakota, kümmere dich um Shonessi“, Ahmik nannte ihn tatsächlich Lakota! Welche Ehre. Marc umfasste Shonessi und trug sie zum Zelt.
„Bring mich doch um, los töte mich, du roter Hund.“ Hartmut war wie von Sinnen, „hast dich jetzt auch mit denen verbrüdert, … Geerrry. Du bist auch nicht besser. Seid froh, dass ich keine Waffe habe. Ich würde euch alle erschießen.“
„Was machen wir mit ihm?“
„An einen Baum binden, dann hat er ein bisschen Zeit zum Nachdenken. … Und wir können ruhig schlafen. Wir entscheiden Morgen, was wir machen.“ So taten sie es.
Am nächsten Morgen holten Sie Hartmut zum Frühstück, ließen ihn aber an den Händen gefesselt. Shonessi ging ohne eine Gefühlsregung zu ihm und verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige, wollte anschließend nochmals zuschlagen. Doch Marc hinderte sie daran.
„Warum schützt du ihn, er wollte mich vergewaltigen und anschließend wahrscheinlich töten. Ich habe das Recht …“
Marc erschrak über ihren Ausbruch, schob es auf den Schock. Er packte sie an den Schultern, schüttelte sie und nahm sie sofort in den Arm, hielt sie fest. Sie entkrampfte, fing hemmungslos an zu weinen. Er versuchte sie zu trösten, streichelte ihr Haar.
„Lass mich nie mehr allein, hörst du? Nie mehr!“ Leise waren die Worte. „Das verspreche ich dir, ich schwöre es im Beisein meines Freundes Gerry und deines Bruders Ahmik.“
Noch immer hielt er sie im Arm. Gerhard konnte es noch immer nicht fassen, dass Hartmut zu einer solchen Tat fähig war, deshalb kam auch der entscheidende Vorschlag von ihm.
„Wir fahren ohne ihn weiter. Er bekommt das Kanu, mein Zelt, Lebensmittel und ein Paddel. Mit dem Kanu ist er wesentlich langsamer als wir. Der Aerius ist für drei bis vier Personen ausgelegt, den übernehme ich oder Lakota“, er machte eine kurze Pause und lächelte dabei. Auch er nannte Marc 'Lakota', fuhr fort, „mit den Faltbooten sind wir mindestens zwei Tage früher am Ziel. Dann melden wir den Vorfall der Polizei.“
Sie banden Hartmut so an einem Baum fest, dass er sich allein befreien konnte. So hatte er keine Chance, mit ihnen gemeinsam los zu fahren.
Frühzeitig waren sie auf dem Wasser. Marc hielt sein Versprechen, er saß mit Shonessi und Ahmik im großen Aerius, wobei sie zum Nichtstun verurteilt war, was ihr überhaupt nicht behagte.
„Ahmik, wir erreichen bald 'Hells Gate', die schwerste Stelle im unteren Bereich des Nahanni. Der Wasserstand ist immer noch ziemlich hoch. Konzentrier dich auf Gerry, er wird den richtigen Weg finden.“
„Lakota, ich will auch paddeln.“ Sie schmollte.
„Shonessi, wir wechseln heute Nachmittag, dann kannst du paddeln. Einverstanden?“
„Ja…ah.“ Den Blick, den sie ihm dabei im Umdrehen zuwarf, brachte ihn fast aus dem Konzept. Von weiter Ferne konnten sie schon die Engstelle erkennen. Bedrohlich rückten die hohen senkrechten Felswände zueinander. Der Fluss hatte sich hier wie mit einer Säge durchgefressen. Direkt in der Durchfahrt schien eine riesige Felsnadel zu stehen. Das Wasser wurde unruhiger, begann zu brodeln. Glucksend und zischend schien es an den dünnen und empfindlichen Häuten der Faltboote zu saugen. Marc war auf das äußerste konzentriert. Erst vor einiger Zeit waren hier zwei Kanus gekentert und die Kanuten beider Boote ertrunken. Doch es war keine Stromschnelle, der Begriff 'Kochtopf' wäre passender gewesen. In dem runden, von bis zu 460m hohen senkrechten Felswänden umschlossenen Kessel brodelte, kreiste und strudelte das Wasser, schwappte laut klatschend gegen die Felswände, brandete zurück. Shonessi drehte sich mit ängstlichen Blicken zu Marc.
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