1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 »So ein Früchtla«, waren die letzten Worte seines Vaters an seine Mutter, bevor Walter außer sich vor Zorn die Haustüre von außen zuknallte, »ich frag mich im Nachhinein bloß, wie du den so erziehn hast können, den Bangert, den nichtsnutzigen?«
Norbert Amon quälte ein schlechtes Gewissen. Er war nicht mehr davon überzeugt, dass es richtig war, Müselüm Yilmaz von der Beziehung zwischen Walter und der Akgül berichtet zu haben. Er fühlte sich wie ein Verräter. Schließlich war der Walter doch immer noch sein bester Freund, auch wenn er zwischenzeitlich mehr Zeit mit seiner türkischen Freundin verbrachte als mit ihm. Aber er war einfach wütend, als er selbst von der Geschichte erfuhr. Zufällig. Er hatte das Gespräch zwischen der schwatzhaften Daggi Weber von nebenan und seiner Mutter belauscht, als die Daggi davon erzählte, dass sie den Walter knutschenderweise in Coburg gesehen hatte. Mit der Akgül Özkan. Der Türkin.
»So was macht mei Norbert net«, hatte seine Mutter stolz geantwortet. So ein Blödsinn. Natürlich würde er der Akgül jederzeit gerne an ihre strammen Titten greifen, wenn er die Chance dazu hätte. Aber er hatte bei Frauen eben kein Glück. Er war nun mal kein Adonis, mit seiner Körpergröße von nur einem Meter siebzig, seinen vierundachtzig Kilogramm Lebendgewicht, den Rettungsringen um seine Taille und seiner pockennarbigen Gesichtshaut. Eigentlich hatte er noch nie eine feste Beziehung mit einem Mädchen gehabt. Das kurze Techtelmechtel mit der spindeldürren Hannelore Adam konnte man nicht als Beziehung bezeichnen. Eher als gescheiterten Fehlversuch. Selbst die hatte ihm den Laufpass gegeben. Na ja, daran war er auch nicht ganz schuldlos. Er erinnerte sich noch genau. Ein halbes Jahr war es jetzt her, als sie sich nachts nach einer Party, leicht vom süßen Alkohol betutelt, gemeinsam auf den Nachhauseweg machten. Er spielte den Charmeur und hatte ihr angeboten, sie zu begleiten. »Brauchst ka Angst zu ham, ich bring dich schon heim«, hatte er ihr gesagt und sie dabei schmachtend angesehen. Sie lächelte ihn dankbar an. Als sie an der Lohmühlhalle vorbeikamen, nahm er all seinen Mut zusammen und drängte Hannelore mit seinem Körpergewicht zielstrebig in das gegenüberliegende Wäldchen. Sie ließ es geschehen. Als er sie dann stürmisch küsste, hatte sie noch immer nichts dagegen. Er wollte mehr. Ermutigt griff er ihr blitzschnell mit beiden Händen unter ihren Pullover und schob ihr den BH fast bis unters Kinn. Dann griff er zu. Besser gesagt, er wollte zugreifen. Doch da war nichts, außer zwei nicht erwähnenswerten, leichten Schwellungen, auf denen je eine Brustwarze saß. Statt der erhofften, straffen Schnaufhügel legte er einen Wust an Stofftaschentüchern frei, welche sanft auf den Waldboden fielen. Anstelle sexueller Wallungen bekam er dann einen kräftig geführten Boxhieb auf die Nase, und Hannelore lief schreiend und schluchzend davon. Er war so verdattert, dass er zunächst überhaupt nicht reagierte. Er stand einfach nur da und in seinem Gehirn hämmerten die Geräusche, welche Hannelores klappernde Absätze auf dem Straßenasphalt verursachten, als sie in der Dunkelheit verschwand. Seine Schwellung im Schritt war auch längst verflogen. Dann hob er die am Boden liegenden Taschentücher auf und zeigte sie am nächsten Tag seinen Saufbrüdern vom Stammtisch Sauf mer nu ans . Norberts Erlebnis machte die Runde unter den Heranwachsenden und Jugendlichen in Röttenbach. Leider ließ es sich in der Folgezeit nicht ganz vermeiden, dass er und Hannelore sich ab und zu im Dorf über den Weg liefen. Hätten ihre Blicke töten können, wäre er jedes Mal einen extrem qualvollen Tod gestorben.
Norberts Gedanken glitten in die Gegenwart zurück. Vor fünf Minuten hatte ihn Doris Kunstmann angerufen. Er hatte sich am Telefon gewunden wie ein Aal, aber sie bestand darauf, dass er ihre Fragen beantwortete. Er war eben kein guter Lügner.
Adem Gökhan war vor drei Jahren aus seiner Heimatstadt Ankara an das Türkische Generalkonsulat in der Regensburger Straße in Nürnberg versetzt worden. Von Anbeginn fühlte er sich in der fränkischen Metropole pudelwohl. Mit seiner Frau Ipek und seiner Tochter Akasya bewohnte er seitdem einen kleinen Bungalow im südöstlichen Stadtteil Nürnberg-Fischbach. Wenn da nicht dieser unglückselige Unfall gleich zu Beginn seines Amtsantritts gewesen wäre, ginge es ihm heute noch deutlich besser. Von Zeit zu Zeit erinnerte er sich an das tragische Ereignis von damals. Es war am 17. März 2010. An diesem Tag war er mit seinem Pkw dienstlich zur türkischen Botschaft in Berlin unterwegs, um sich persönlich beim Botschafter seines Landes vorzustellen. Er war fast am Ziel angelangt, als auf der Tiergartenstraße in Höhe Clara-Wieck-Straße ein Junge quer über die Fahrbahn lief. Der Kleine ignorierte den schnell dahinfließenden Verkehr. Er war plötzlich da, ein huschender Schatten. Adem hatte nicht die geringste Chance zu reagieren. Ein wuchtiger Schlag gegen das Fahrzeug, dann wirbelte ein kleiner Körper durch die Luft, flog über das Dach seines silbergrauen Volvos hinweg und schlug hart auf dem Straßenasphalt hinter ihm auf. Auch der nachfolgende Fahrer des grünen Ford Escort hatte keine Chance mehr, rechtzeitig zu bremsen. Er überrollte den reglosen Körper, der bereits aus Nase und Ohren blutete. Der zehnjährige Muhammed Abusharekh, Sohn von Ali Abusharekh, war sofort tot. Die Gerichtsverhandlung im Frühjahr dieses Jahres ging wie erwartet gut für Adem Gökhan aus. Der Richter sah keinerlei Verschulden, welches dem Unglücksfahrer hätte angelastet werden können, und sprach den Mitarbeiter des Türkischen Generalkonsulats von jeglicher Schuld frei. Die palästinensische Großfamilie Abusharekh aus Berlin-Neukölln sah die Schuldfrage allerdings völlig anders als der deutsche Richter: Der Sohn der Abusharekhs sei getötet, der Täter aber nicht bestraft worden. Der Vorfall müsse nach den Bestimmungen der Scharia geregelt werden, forderten sie.
Als Adem Gökhan sich Anfang 2013 erneut auf den Weg nach Berlin machte, um, wie er hoffte, mit den Abusharekhs in einem Versöhnungstreffen zu erreichen, dass man sich nach alter arabischer Tradition die Hände reichen und Tee trinken würde, stellte er schnell fest, dass er sich gewaltig geirrt hatte. Als er die Wohnung der Familie Abusharekh betrat, wusste er, dass die Familie des Unfallopfers keine Friedenspfeife rauchen wollte. Fünfunddreißig Familienmitglieder und der Imam einer Neuköllner Moschee empfingen ihn. Der Geistliche rezitierte aus dem Koran und empfahl erneut, dass der Fall nach der Scharia geregelt werden sollte. Adem protestierte. »Ich akzeptiere die Scharia nicht«, stieß er wütend aus. »Wir leben in Deutschland und unterliegen der deutschen Rechtsprechung. Ich bin von einem ordentlichen deutschen Gericht freigesprochen worden. Mich trifft keine Schuld an dem unglücklichen Unfall.« Seine Argumente beeindruckten den Imam jedoch in keinster Weise. Er forderte Schadenersatz für die leidvoll geplagte Familie. Die Abushareks hörten die Worte des Imam und nickten mit versteinerten Mienen. Adem Gökhan solle den Gegenwert von achtzig Kamelen entrichten, dann wäre die Angelegenheit erledigt. Der Imam errechnete einen Betrag von 44.000 Euro. Nach heftigen Verhandlungen blieb immer noch ein Betrag von 30.000 Euro übrig, aber auch den lehnte Adem Gökhan aus Prinzip ab. »Wir wollen dich nicht bedrohen, aber wenn du auf der Straße bist, können wir für dein Leben nicht garantieren«, erklärte ihm Ali Abusharekh mit hasserfüllten Augen. Adem Gökhan wandte sich sowohl an die Berliner, als auch an die Nürnberger Polizei. »Die Abusharekhs gehen geschickt vor, sie haben keine direkte Bedrohung ausgesprochen«, erklärte ihm Lorenz Illgen, Leiter des Dezernats Organisierte Kriminalität beim Berliner Landeskriminalamt. »Obwohl wir wissen, dass Teile der Familie sich in der Vergangenheit durch Eigentums- und Gewaltdelikte hervorgetan haben, können wir aktiv nichts gegen sie unternehmen. Wir sind quasi zur Zuschauerrolle verdammt.«
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