Hatte er etwas übersehen?
Er schüttelte den Kopf, sah noch einmal durch die Glastür so gut es ging die Straße entlang, dann drückte er sie vorsichtig auf und trat einen halben Schritt ins Freie. Die Straße sah verlassen aus. Kein Zombie ließ sich blicken. Er sah seinen Wagen. Den würden sie stehen lassen müssen, denn es gab keinen freien Weg über die Severinsbrücke. Es war fraglich, ob sie bei einer anderen Rheinbrücke mehr Glück hätten. Eine entsprechende Suche würde Zeit kosten. Mehr, als sie zur Verfügung hatten, wenn sie Jonas und die anderen Kinder wirklich retten wollten. Hinter ihm drückte Sandra die Tür auf und Frank trat vollends auf den Bürgersteig.
Verwundert runzelte er die Stirn.
Am Ende der leicht gebogen verlaufenden Straße, dort wo die Kreuzung die Auffahrt zur Severinsbrücke bildete und ziemlich nah an seinem Wagen, herrschte ein Tumult unter den Zombies. Es sah aus, als würden sie über jemanden herfallen. Sandra trat neben ihn.
»Was ist da los?«, flüsterte sie. »Haben die etwa einen Überlebenden erwischt?«
»Ich weiß es nicht. Und wenn, dann können wir sowieso nicht mehr helfen.« Frank kniff die Augen zusammen und beugte sich leicht vor. »Lass uns abhauen bevor …«
Frank wich erschrocken zurück und rempelte beinahe Sandra an. Aus der tobenden Menge der Zombies war ein Kopf erschienen, den er erkannte. Ein Kopf mit einem Hausmeisterhut, ein Oberkörper in einem blaugrauen Kittel.
»Scheiße!«, fiel es ihm wie ein Stück verdorbenes Obst aus dem Mund. »Den kenne ich.«
»Bitte?«
Frank drehte sich zu Sandra um. Er sah Erschrecken in ihrem Blick, das viel tiefer ging, als er es für möglich gehalten hätte.
»Ich habe dieses Ding da vor mehr als einer Woche ein Treppenhaus hinuntergeworfen!«
Der Zombie im Hausmeisterkittel sah die Straße hinunter. Irgendwas hing aus seinem Mundwinkel. Er wirkte wie ein Scharfschütze, der gerade ein besonders lohnendes Ziel ins Visier nahm. Langsam trennte er sich von dem Knäuel der Ghoule und kam die Straße entlang auf Frank und Sandra zu. Aber wo er eigentlich hilflos wanken und torkeln sollte, zeigten seine Schritte eine ungewöhnliche Sicherheit. Sandra schüttelte den Kopf, hob die Pistole und legte an. Frank bemerkte statt Angst einen heißen Zorn in ihrem Blick und ihrer Haltung. Es war beinahe, als hätte sie mit diesem Untoten eine persönliche Rechnung zu begleichen.
»Jetzt bist du endlich fällig«, murmelte sie. Frank hob zu einer Frage an, Sandra drückte ab … Ein trockenes Klicken erklang anstelle des erwarteten Knalls!
Verwirrt sah sie auf den Sicherungsbügel.
Entsichert.
Erneut hob sie die Waffe und drückte ab.
Nichts!
»Heiligemuttergottesdasdarfesnichtgeben …«
Der Hausmeisterzombie wurde schneller.
»Lauf!«, keuchte Frank, während er seine Waffe hob. Der Zombie verfiel in einen Dauerlauf. Weitere Reanimierte blickten auf, entdeckten offenbar das Ziel des einsamen Jägers, und folgten ihm. Frank legte an, drückte ab und eine lange Reihe Staubfontänen stieg aus dem Asphalt vor den Ghoulen auf. Zwei von ihnen zuckten unter den Einschlägen zurück, aber sie liefen einfach weiter. Frank hielt die Mündung der Waffe höher, traf aber nur Fassaden und Fenster. Dann erklang auch in seinen Händen nur noch ein trockenes Klicken. Er hatte keine Munition mehr. Und jetzt wurde ihm bewusst, was er die ganze Zeit übersehen hatte.
Seine Reservemagazine!
Die lagen gut verstaut auf dem Beifahrersitz seines Wagens und der Hausmeisterzombie kam unaufhaltsam näher, rannte beinahe schon, wobei diese Dinger doch im Hellen gar nicht rennen konnten! Oder etwa doch?
»Lauf!«, keuchte Frank.
»Ab...«
»LAAAAUF!«
*
Die Gier war gut.
Die Gier nach mehr, mehr und nochmal mehr von allem sorgte dafür, dass er an Kraft gewann, die Gier war der Motor des Lebens, was immer das auch bedeuten mochte, war die Waffe, die ihn auf der Jagd nach dem warmen Roten allen anderen überlegen machen würde. Und wenn er sich ihr ergab, würde sie ihm helfen, das warme Rote ganz für sich alleine zu haben, es mit niemandem teilen zu müssen, es ganz alleine verschlingen zu können … Ja, die Gier war gut.
Es war kein richtiges Verstehen, das Papas Bewusstsein durchflutete. Es war eher ein animalischer Instinkt, der ihn antrieb. Immer und immer wieder biss er in den Leib des anderen, der nicht verstand, was da geschah, schlang große Bissen seines dunklen und kalten Fleisches herunter. Als andere Hände und Gesichter hinzukamen, schlug und biss Papa um sich, verteidigte seine Quelle der Kraft, die um so vieles schwächer war, als es das warme Rote versprach, und ihm doch zumindest etwas von der dringend benötigten Kraft gab, die ihn am Leben erhielt. Das Getümmel aus verzerrten Gesichtern, Armen, Beinen und Leibern wurde immer dichter. Schließlich lagen von dem anderen nur noch Fetzen seines Leibes auf dem Boden. Sein Kopf, aus dem die Augen immer noch verständnislos in das helle Leuchten blickten, kullerte über den Boden.
Papa spürte etwas.
Etwas war hinter ihm.
Er erhob sich, sah sich um … war sein Blick schärfer? Er konnte trotz des hellen Leuchtens klarer sehen. Das war gut, das war … das warme Rote! Da hinten! Ganz weit weg von dem Auto. Und es war nicht alleine! Es hatte ein anderes warmes Rotes dabei!
Langsam wandte Papa sich vollends um.
Sein Hunger war gestillt, aber die Gier und das dunkle Heiße brannten heller in ihm, als das Leuchten, das ihm so in den Augen und auf dem Körper brannte. Er ging auf das warme Rote zu. Oh, das war gut! Er spürte, dass seine Beine an Kraft gewonnen hatten, wie er immer schneller wurde, beinahe zu fliegen schien. Fliegen? Was war Fliegen? Egal! Was immer es auch war, es brachte ihn schneller zum warmen Roten. Die Gier trieb ihn an, die Gier ließ ihn fliegen …
Die Gier war gut!
*
Frank und Sandra bogen bei der ersten Möglichkeit nach links in Richtung Rheinufer ab. Sie waren etwa die Hälfte des Weges bis zur nächsten Einmündung gekommen, als Sandras Rucksack riss. Rutschend kam sie zum Stehen. Frank bremste ebenfalls seinen Lauf. Er sah die Straße hinunter … und da kam er schon. Dieser hartnäckige Zombie, den er in seinen panikerfüllten Gedanken Hausmeister Krause getauft hatte, um seine Angst daran zu hindern, ihn erstarren zu lassen wie ein Reh, das auf einer nächtlichen Straße in das Scheinwerferlicht eines Autos blickte.
Der Zombie war schnell.
Schneller als er eigentlich sein durfte.
Sandra zögerte. Frank lief die wenigen Schritte zu ihr zurück, riss sie an der Schulter.
»Komm! Lass liegen!«
Der Zombie war noch knapp siebzig Meter entfernt. Kurz darauf kamen weitere aus der Seitenstraße. Ebenfalls viel schneller, als Frank oder Sandra die Reanimierten je erlebt hatten.
»Haken schlagen!«, rief Frank und rannte nach rechts eine Seitenstraße rein. Nach knapp sechzig Metern hielt er sich links. Jeder Atemzug brannte ihm in der Lunge, in seinen Beinen breitete sich der heiße Schmerz der ungewohnten Anstrengung aus. Wann war er zuletzt gerannt oder zumindest mal etwas länger zu Fuß gegangen, anstatt sein Auto zu benutzen? Sandra blieb mit ihm auf einer Höhe, obwohl sie ihn mit Leichtigkeit hätte überholen können. Immerhin trug sie jetzt keinen provisorischen Rucksack mehr. Frank verdrängte den bösartigen Gedanken. Sie atmete viel gleichmäßiger als er, so als wäre sie es gewohnt, um ihr Leben zu laufen. Da hätte auch der Rucksack keinen Unterschied mehr gemacht. Die beiden warfen im Laufen einen Blick zurück. Der Hausmeisterzombie rannte gerade um die Ecke. Von seinen Gefährten war noch nichts zu sehen.
»Links«, rief Sandra.
Frank, der eigentlich weiter geradeaus wollte, schaffte es strauchelnd, die Richtung zu wechseln. Sie rannten die Straße an einem Reihenhaus vorbei. Autowracks standen quer, Mülltonnen lagen auf der Straße. Immer wieder mussten sie ihr Tempo kurz zügeln, um über Hindernisse zu klettern, die zu hoch waren, um sie einfach aus vollem Lauf zu überspringen. Hoffentlich hielt sich hier kein weiterer Zombie versteckt.
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