Wahrscheinlich.
Eine diffuse Ahnung war da in ihm, dass man immer zu seinem Auto zurückkehrte. Also würde das warme Rote bestimmt wiederkommen. Aber er musste vorsichtig sein, denn sonst würde er es verscheuchen, wenn er endlich seinen schrecklichen Hunger stillen wollte! Also hatte er sich in das Dunkel eines Hauses zurückgezogen.
Und hier stand er jetzt.
Lauernd.
Wachend.
Hungernd.
Das warme Rote würde zurückkehren.
Und dann würde er endlich seinen Hunger stillen können.
Kapitel V - Der lange Weg
Frank legte nach dem Funkgespräch eine nahezu unmenschliche Aktivität an den Tag. Im Licht der Propangaslampe schrieb er auf die Tafel des ehemaligen Klassenzimmers eine Liste mit all den Dingen, die sie dringend benötigten. Zu jeder einzelnen Position ermittelte er das geschätzte Gewicht und den Platzbedarf. Danach teilten sie gemeinsam die Ausrüstungsstücke in zwei Haufen, um abschätzen zu können, wie groß und stabil ihre improvisierten Rucksäcke sein mussten. Zwei Kopfkissenbezüge reichten tatsächlich aus, um alles auf zwei Personen zu verteilen, und ihnen trotz der Belastung noch ausreichend Bewegungsfreiheit zu gewähren.
Frank und Sandra zogen gerade die Bezüge zweier Kopfkissen ab, als von unten ein dumpfes Pochen durch die Schule hallte. Starr vor Schreck hielten die beiden inne, lauschten auf den Lärm, warteten darauf, dass die Tür mit einem Knall zufallen und schlurfende Schritte die Treppen heraufkommen würden. Sandra schoss ein Bild aus ihrer Kindheit durch den Kopf. Nur mit Mühe konnte sie ein Zittern und Tränen zurückhalten.
Das Monster kommt! Er hat wieder seinen Lohnstreifen versoffen und eine Stinkwut auf alles und jeden. Ob Mama jetzt auch in ihrem Bett liegt und Angst hat?
Ihre Finger verkrampften sich um das lange Fleischmesser, das sie als einzige Waffe auf ihrer Flucht hatte retten können. Es war wie ein Anker, der sie in die Realität zurückholen konnte. Nicht, dass die besonders schön war, aber immerhin würde es nicht ihr Vater sein, der da unten versuchte einzudringen. An diesem Gedanken hielt sie sich fest.
Das da unten war nicht ihr Vater, konnte es nicht sein, denn er war kurz vor dem Ausbruch der Seuche mit einer Leber ins Krankenhaus gegangen, die fester und dichter gewesen war, als ein alter Wackerstein. Hoffentlich hatte ihm der Krebs große Schmerzen bereitet.
Sandra hasste sich für diesen boshaften Gedanken.
Das Pochen verstummte nach einer Weile. Sie sah Frank an, dessen Gesicht wie ein bleicher Ballon im schwachen Licht der Propangaslampe über seinem bunten Rennanzug schwebte. Sie warteten noch einen Moment, dann machten sie sich schweigend wieder an die Arbeit.
Sandra schnitt mit ihrem Messer ein Laken in lange Streifen, verwob jeweils zwei dieser Streifen zu einem Gurt und führte diese durch zwei Löcher in den Bezügen. Bequem waren die Rucksäcke nicht, aber sie erfüllten ihren Zweck. Vielleicht würden sie auf ihrem Weg ja die Möglichkeit bekommen, sie gegen echte auszutauschen.
Dann setzte sie sich auf eines der Betten, lehnte sich an die Wand am Kopfende, und sah Frank dabei zu, wie er auf der Tafel eine grobe Skizze ihres Weges zeichnete.
Schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
*
Er wartete in der Dunkelheit.
Reglos.
Selbst als von irgendwoher ein dumpfes Geräusch durch das Dunkel hallte, blickte er nur mäßig interessiert in die ungefähre Richtung. Die anderen flüchteten sich in sinnlose Aktivität, huschten durch die Dunkelheit, klopften hier, stöhnten dort … sie nervten ihn.
Ein interessantes Gefühl.
Nerven.
Was war das?
Er lauschte in sich hinein, und begutachtete die abstrakten Begriffe wie Auto, Ballon, Würstchen und genervt sein. Das schienen Dinge zu sein, die für ihn vor dem großen Schlaf von einiger Bedeutung gewesen sein mussten. Dabei fielen die drei Begriffe genervt sein, Ballon und Würstchen immer in einen Zusammenhang mit einem Bild von einem kleineren, warmen Roten, das ihn umarmte.
Während er da stand und wartete, versuchte er, dieses Bild irgendwie besser zu verstehen. Immer wenn das kleine, warme Rote in seinem Bewusstsein auftauchte, glaubte er zudem eine Stimme zu hören, was ihn enorm verwirrte.
Nochmal, Papa. Bittebittebitte nochmal, Papa.
Das Gefühl genervt zu sein vermischte sich in diesen Momenten mit einem anderen Gefühl, das ihn den bohrenden Hunger in seinem Inneren vergessen ließ.
Liebe?
Was war Liebe?
Papa?
War das sein Name?
Mit diesem verwirrenden Gefühl kam zugleich auch Stolz in ihm hoch. Stolz und Trauer vermischten sich miteinander auf verwirrende Weise, und das diffuse Bild seines Autos schob sich immer wieder vor sein geistiges Auge.
Seines Autos?
Hatte er vor dem großen Schlaf auch ein Auto gehabt?
Wenn er das Bild seines Autos in sein Bewusstsein hervorholte, so wurde das Gefühl der Trauer in ihm so stark, dass er sogar laut aufstöhnte, was ihn aus seinen Gedanken wieder zurückholte. Sein Blick klärte sich. Einer der anderen war an das Auto gekommen und trommelte darauf herum. Das dunkle Heiße schoss mit aller Wucht in ihm hoch. Er ging auf den anderen zu, packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn zur Seite.
Niemand durfte das Auto anfassen!
*
Der Andere blickte ihm mit dumpfer Verständnislosigkeit ins Gesicht, bevor er aufstand und seines Weges ging. Zufrieden zog er sich zurück in sein Versteck.
Die angenehme Dunkelheit hüllte ihn und seine Gedanken wieder ein. Das dunkle Heiße in ihm zog sich zurück, loderte aber weiter im Untergrund seines Seins.
Wachsam, so wie er.
Und er dachte von sich selber ab jetzt als Papa.
Irgendwie ein gutes Gefühl, egal wie abstrakt es auch sein mochte.
*
Sandra erwachte aus einem kurzen und unruhigen Schlaf. Orientierungslos blickte sie sich um. Dann sah sie Frank an einem der Fenster stehen und in die Morgendämmerung hinausblicken. Die Sonne färbte einen breiten Streifen des Himmels in ein rötliches Glühen. Keine Wolke war zu sehen. Der Prolog des nahenden Tages versprach wunderbares Wetter.
Helles Wetter.
Sandra war froh darüber.
Die da draußen mochten es nicht, wenn es zu hell war.
Dieser Gedanke rief ihr ins Gedächtnis, was sie heute vor hatten. Ihr Blick fiel auf die improvisierten Rucksäcke und die Wegskizze an der Tafel. Sie hatten alles getan, um ihre kleine Rettungsexpedition so sicher wie möglich zu gestalten. Frank drehte sich um und lächelte sie an.
»Morgen. Kaffee? Ist aber leider nur löslicher, und warm ist er auch nicht mehr.«
»Danke, ja. Wie spät ist es?«
»Kurz vor acht.«
»Hast du schon was von den Kindern gehört?«
»Nein. Und auch sonst herrscht im Äther Funkstille. Wir scheinen wirklich die Letzten zu sein.«
Sandra sah etwas in Franks Augen. Etwas, dass sie beunruhigte.
»Was hast du?«
»Bitte?«
»Du wirkst plötzlich so … anders. Irgendwie gedämpfter als noch vor ein paar Stunden, wo du beinahe vor Aktivität explodiert bist.«
Frank wandte sich wieder um. Sein Blick glitt aus dem Fenster, wo sich die schattenhaften Umrisse Kölns scharf gegen den heller werdenden Horizont abhoben.
»Das Ganze ist Wahnsinn. Und das weißt du auch.«
»Willst du einen Rückzieher machen?«
»Nein. Das kann ich nicht. Frag mich nicht warum, aber es geht einfach nicht.«
»Du hast Angst.«
»Ja. Auch. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass da noch mehr ist. Es ist, als würde da draußen etwas auf mich warten.«
»Was meinst du?«
Frank seufzte. Langsam drehte er sich wieder um. Sandra zuckte erschrocken zusammen, denn in dem dämmerigen Licht glich er eher einem der Untoten, die draußen die Straßen bevölkerten. Nur dass aus seinen Augen Intelligenz blitzte.
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