„Ich weiß“, sagt Marianne. „Aber müssen sich denn alle daran halten?“ Sie lachen. Diese Momente bevor sie losgehen sind manchmal die besten.
„Akim hat mich die Woche besucht.“ Petra sagt das ganz beiläufig, aber Marianne bemerkt ihre Unsicherheit.
„Was willst Du hören, Petra? Mich hat er auch schon mal besucht und fast jede, die regelmäßig im Nexus zur Ü-50 ist. Wenn es Dir gut getan hat, okay. Es ist schön, sich wenigstens ab und zu als Frau begehrt zu fühlen. Und das hat Akim drauf.“
Beide schweigen.
„Mehr aber auch nicht, lass uns los.“ Petra drückt die Zigarette aus.
Susanne hat ihren Stammplatz am Tresen frei gehalten. Dafür ertragen sie, dass Susanne den ganzen Abend über die Musik schimpfen wird. Der DJ, der berufsmäßig Richy zu heißen hat und dies auch erfüllt, wird wieder von ihren voluminösen Airbags unbeeindruckt sein. Die legt sie ihm immer fast auf die Musikanlage, wenn sie ihre schon beeindruckende Oberweite noch weiter nach oben quetscht. Keine Chance, Richy steht weder auf diese Aussicht noch auf Olivia Newton John und die Flippers. Gott sei Dank.
Willi hat die Drei entdeckt. Der war mal bei Bauer sucht Frau, leider erfolglos. Jetzt betanzt er dafür hier die Frauen. Er gehört zwar zu den wenigen Männern, die tanzen können, aber er hat so fürchterlich feuchte Hände. Und dann will er immer drehen. Einmal hatte er Marianne so rumgeschleudert, dass sie aus der schwitzigen Hand rutschte, dann über die ganze Tanzfläche kugelte und auf dem Bauch liegen blieb. Es gibt davon einige Handyfotos, die ihr liebenswerterweise zugemailt wurden. Seitdem verschont er sie und heute ist Susanne dran. Die freut sich. „Ist zwar blöde Musik, aber gerne.“
Es ist anstrengend den gesamten Abend so zu wirken, dass sich die Spinner nicht animiert fühlen, aber die interessanten Typen nicht abgeschreckt werden. Einer ist aufgetaucht, den sie toll findet. Der ist das erste Mal da. Kein Ring, aber das hat nichts zu sagen. Sie beobachtet, dass er keine auffordert. Um nicht arrogant zu wirken, nimmt Marianne jede Tanzaufforderung an. Einer hat die Hand schon auf dem Weg zur Tanzfläche auf ihrem Hintern und ein Psycho spricht nur von seiner Scheidung und wie schrecklich es sei, wieder auf die Pirsch gehen zu müssen. Er drückt sich tatsächlich so aus. Dann noch ein Sturzbetrunkener und zwei, drei absolute Langweiler. Endlich fordert sie dieser tolle Mann auf. Er kann tanzen, ist witzig, unterhaltsam und erstaunlicherweise normal. Unglaublich, dass es so etwas gibt. Es stört sie auch nicht, dass er ihr beim ersten Kuss die Zunge in den Mund schiebt. Lieber forsch, als zu schüchtern. Dann beugt er sich vor und sagt: „Können wir zu Dir? Meine Frau ist zwar zur Kur, aber die Nachbarn.“ Sie fühlt sich wie vorhin im Bad, hört das denn nie auf? „Ne, lass man“, antwortet sie nur und dreht sich ab.
Heute ist ihr alles egal und sie bestellt noch weitere Getränke. Aufforderungen nimmt sie nicht mehr an. Ist denn hier gar kein kleines Glück versteckt? Wo denn dann? Gegen drei Uhr ist sie ziemlich angetrunken und zum Glück will Petra los.
Marianne lässt frustriert die Schlüssel auf den Küchentisch fallen. Wieder einmal allein nach einer Ü50-Party in der eigenen Wohnung. „Ich fühle mich wie ein Stück Obst bei Lidl. Jeder will mich drücken, aber keiner nimmt mich mit nach Hause!“ Entnervt zieht sie an der Zigarette und fürchtet sich insgeheim vor dem Aussortiert werden. Scheiß Discountermentalität.
Manchmal denke ich an meine Kindheit. Da war noch alles gut. Tochter aus gutem Haus, „gutgewachsen“, wie meine Mutter sagte, und klug, sogar gescheit, nicht schön, aber hübsch. Vielleicht ein wenig zu ernsthaft doch mit keiner dieser negativen Eigenschaften versehen, die jungen Mädchen allzu gern unterstellt werden. Ich war weder zickig noch albern. Eine gewisse Selbstverliebtheit will ich mir nicht absprechen, aber ist es zu verurteilen, wenn man sich seiner guten Eigenschaften bewusst ist? Ich sehe mich noch vor dem großen Spiegel in unserer Diele um die eigene Achse drehen. Beim Anblick meines Bildes dachte ich: „Der wird einmal Glück haben, der dich abkriegt!“ Während mein Vater seine kleine Prinzessin in ihrem Glauben bestärkte, sah mich meine Mutter zunehmend kritisch an.
„Vergiss bei der Suche nach dem Richtigen nicht, ausreichend Spaß mit den Falschen zu haben“, riet sie mir eines Tages.
Das fand ich unmöglich. Nein, ich wollte nicht den Ersten, ich wollte den Besten. Nicht, dass es keine Interessenten gab. An meiner Schule gab es genug pubertierende Jünglinge, die in ihrem testosterongeschwängerten Übermut all ihre Schüchternheit über den Haufen warfen und mich todesmutig ansprachen. Freundlich aber bestimmt machte ich sie darauf aufmerksam, dass sie zwar ganz nett wären, meiner Idealvorstellung eines Freundes aber leider so überhaupt nicht entsprächen. Unfreundlich und sehr bestimmt setzten sie daraufhin andere darüber in Kenntnis, dass ich eine eingebildete Kuh wäre. Ab dann wurde alles schlecht.
Ich hatte ein- oder zweimal zu oft junge Himmelsstürmer abblitzen lassen. Die vergnügten sich mit ihren albernen, zickigen Freundinnen und amüsierten sich gemeinsam über die Jungfer Frauke. Viele junge Männer halten sich für Prinzen, verhalten sich aber nicht so. Wer begibt sich schon in Gefahr und tötet den Drachen, um sich dann von dem Burgfräulein anhören zu müssen: „An sich hatte ich jemanden anderen erwartet!“ Das Brandmal war gesetzt, der Makel haftete mir an. Wie Pech klebte er an mir, sodass jeder Mann die Finger von mir ließ, um sie sich nicht zu verbrennen. Ende zwanzig hatte ich weder mit dem Richtigen noch mit den Falschen auch nur irgendeine Art von Spaß. Ich war nicht verklemmt und hatte mich auf dem Gebiete der Theorie zu einer wahren Fachfrau entwickelt. Doch sexuelle Erfahrungen hatte ich nur durch mich selbst, was mich noch mehr beschämte, als das es mich traurig machte.
Ich beschloss umzuziehen. Weg aus der anonymen Großstadt Hamburg in das verträumte, kleinstädtische Flensburg. Hier wollte ich mich ändern, das Brandmal herausschneiden, den Spaß suchen, egal mit wem und auf welche Art und Weise.
Vor sich selbst kann man nicht fliehen.
Fünf Jahre später sah es bei mir immer noch nicht anders aus. Zwar wurde ich angesprochen, es gab ernsthafte Anwärter, aber ich konnte den Mantel der Keuschheit nicht ablegen. Sie waren allesamt Frösche für mich. Bei keinem von ihnen versprach ich mir die erhoffte Verwandlung. Ach, wenn es doch nur so gewesen wäre, stundenlang hätte ich sie geküsst, wenn am Ende dann doch der erträumte Prinz vor mir gestanden hätte.
Und dann kam Tom.
Allein schon dieser Name. Kein abgekürzter Thomas, nein ein echter Tom. Wie gerne hätte ich bei seiner Frage nach meinem Namen geantwortet: „Kim.“ Sally oder Su wäre auch noch gegangen, aber ich brachte nur heraus: „Frauke.“ Zu meiner Überraschung blieb dieser blendend aussehende, charmante Tom stehen, lächelte mich mit seinen smaragdfarbenen Augen an und sagte: „Und was für eine Frau!“ Ich schmolz dahin. Es gibt Momente der Sicherheit, in denen du dir der Glückseligkeit so bewusst bist, dass du bedenkenlos ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springen würdest. Was kann dir passieren? Alles ist gut und wird es bleiben. Dein Schicksal hat sich erfüllt.
Der Anfang unserer Beziehung war wunderbar. Toms Mittellosigkeit störte mich nicht. Einen reichen Mann hatte ich nicht gesucht und ich verdiente genug für uns zwei. Wir wohnten in einer schönen Wohnung in Jürgensby mit herrlichem Blick auf die Förde. Das Bett hatten wir direkt ans Fenster gestellt. Seine Nähe und Zärtlichkeit war berauschend. Er war überrascht, dass er meine erste Erfahrung war, doch nach kurzer Verunsicherung gefiel es ihm, mein Lehrmeister in diesem für mich neuen Fach zu sein. Ich genoss es, lernte eifrig und lag erschöpft und glücklich in seinen Armen. Tom zog an seiner Zigarette und schaute mit mir auf den Hafen. Ich war glücklich.
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