Henriette bemerkte auch den Sonnenschein und die ruhige See am Morgen und stürmte an Deck. Zu schnell. Sie rutschte über das nasse Deck und landete in Sekundenschnelle im Wasser. Sie schlug wie wild um sich und ja, sie schaute mich zum ersten Mal an. Fast flehend. Und ich? Ich überlegte, ob es nicht besser so wäre und ich einfach weitersegeln sollte. Da hörte ich hinter mir ein Geräusch. Und das Folgende wollen mir meine Freunde nicht glauben, aber es ist wahr.
Ich drehte mich um und da saß er. Er trug einen Südwester, aber seine roten Haare quollen darunter hervor. Die Pfeife lässig im Mundwinkel packte er seine Sachen in die große Seemannskiste, die vor ihm stand. Seinen Hammer hatte er zu diesem Zweck auf die Seite gelegt und unterbrach seine Tätigkeit nur, um sich kurz grüßend mit zwei Finger an die Stirn zu tippen. Der Klabauter. Er packte. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn er ein Schiff verlässt.
Ich zögerte nicht, und segelte eine Wende. Henriette war aufgrund der stillen See immer noch auf Sicht. Sie schlug um sich und als ich sie nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte, schien sie ihre Kraft zu verlassen. Ich sicherte mich und ließ mich über Bord hängen, schnappte sie mir mit einem Ketscher und schleuderte sie an Deck. Da stand sie nun und flatterte wie ein aufgeregtes Huhn. Naja, schließlich ist sie auch eins. Womit hatte mir Paul in den Ohren gelegen? Nach jedem alten Seemannsbrauch gehört ein Huhn zur Abschreckung des Klabautermannes an Bord. Ich schaute ihn an. Er lächelte, nahm seinen Hammer und seine Seemannskiste und ging wieder unter Deck. Henriette, das nasse Huhn, schaute ihm teilnahmslos hinterher. Dann kam sie zu mir und strich mir um die Beine, wie eine Katze. Ich war gerührt.
Sie hat mich dann noch bis in die Südsee begleitet. Viel haben wir erlebt in diesem Jahr und sie hat mir sogar geholfen, meine Beziehungsangst zu überwinden. Natürlich nicht mit Henriette sondern mit Sandy, die ich in New York kennengelernt habe. Kein dummes Huhn, sondern eine liebevolle Australierin. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zählen ist einfach. Eins, zwei, drei … wo ist das Problem? Habe ich als Kind gedacht.
Vom ersten Kuss erzählen, und schon stehe ich im Regen. Welcher war denn für mich der erste?
In der Tradition meiner ersten Zählversuche käme er von meiner Mutter. Zärtlich, liebevoll hat er mir mein Urvertrauen geschenkt: Alles ist gut! Aber zählen Mütter beim Küssen? Vielleicht käme meine Oma in Betracht. Nur, ich erinnere mich ungern an diesen riesigen feuchten Mund, der sich mir bedrohlich näherte. Nicht immer gelang es mir, meinen Kopf rechtzeitig beiseite zu drehen. Gewässert begriff ich zwar geliebt zu werden, nur gemocht habe ich es nicht.
Also kommen wohl eher nichtverwandte Geschöpfe des angehimmelten Geschlechts in Betracht. In meinem Fall Mädchen. Damit kommt Jutta ins Spiel. Nett, kumpelhaft, burschikos, war sie die erste aus dieser Gruppe, die ihre Lippen auf meine drückte. Wahrheit oder Pflicht haben wir am Strand gespielt und die Aussicht, die Wahrheit zu erzählen, erfüllte mich mit solcher Panik, dass ich mich für Pflicht entschied. „Jutta mindestens zehn Sekunden lang unter Wasser küssen!“, lautete der Auftrag. Schon zweifelte ich an meiner Wahl. Während ich todesmutig, aber besorgt auf das Wasser zuging, entdeckte ich bei Jutta eine gewisse Vorfreude. Sie hüpfte dem Nass regelrecht entgegen. Hatte ich da was verpasst? Unter Wasser wurde ich nicht nur das erste Mal von einem Mädchen geküsst, sondern begriff auch die Funktionsweise eines Staubsaugers. Ich war froh, meine Zunge behalten zu dürfen. Soll das der erste Kuss gewesen sein? Nein, zählen ist schwierig.
Und wenn ich mich für die Wahrheit entschieden hätte? Vielleicht hätte ich meine Liebe zu Ute gestehen müssen. Was wäre dann passiert? So zog ein halbes Jahr ins Land bevor ich Ute küsste. Küsse sind keine Erbsen, die sich ja anscheinend hervorragend zum Zählen eignen. Sie sind etwas Besonderes, etwas Aufregendes, etwas Tolles, etwas Schönes … etwas, was Dich verändert. Nachdem ich Ute geküsst hatte, war ich verändert. Ein halbes Jahr lang werben und vor Schüchternheit sterben und sich seiner unsterblichen Liebe sicher zu sein, fand endlich seine Erfüllung. Hand in Hand am Strand, an dem mich Jutta sechs Monate zuvor fast ausgesaugt hätte, zitterte ich fast mehr vor Aufregung als vor Kälte. Und kalt war es. Saukalt! Aber als sich unsere Lippen trafen, spürte ich die Kälte nicht. Ich war auch nicht mehr aufgeregt. Glückselig, wie man sich nur bei seiner ersten Liebe fühlt.
Danach gab es noch andere Küsse: Leidenschaftlichere, erotischere, verbotene, erhoffte, befürchtete, endgültige … aber: Doch, zählen ist einfach.
Ute, das war mein erster Kuss.
„Ich hol Dich dann nachher ab.“
„Wann?“
„Halb zehn!“
„Okay, bis dann Petra.“
Marianne legt das Handy beiseite und zieht tief an der Zigarette. Ich sollte nicht rauchen, denkt sie. Gibt gelbe Zähne und stinkt. Mögen die Männer nicht, aber wenn ich aufhöre, werde ich wieder dick. Mögen die meisten auch nicht. Sagen zwar immer, es sei ihnen egal, aber dann fordern sie die Schlanken auf. Sie sitzt in der Küche, da kann sie am besten lüften. Dann riecht es wenigstens nicht in der übrigen Wohnung. Vielleicht kommt jemand mit, man weiß ja nie. Ob der raucht ist egal, Raucher stören sich nicht am guten Geruch. Wie spät ist es? Zwanzig Uhr. Wird Zeit, sich zurechtzumachen. Petra wird sich wieder total aufgebretzelt haben. Na ja, die anderen Frauen auch.
Bei den Männern sieht das anders aus. Von einigen glaubt sie, dass sie sich am Samstagabend mit Bierflasche auf dem Sofa rumlümmeln, um sich dann in den gleichen Klamotten zur Ü-50 auf zu machen. Mal sehen, was da so rumläuft. Schick machen müssen sie sich nicht, sie haben ja herausragende innere Werte. So wie dieser Hackfleisch-Harry, Schlachter seines Zeichens.
Den Spitznamen hat ihm Petra gegeben. Der betont immer, dass er Humor hätte und wie viel Spaß man mit ihm haben könnte. Letztes Mal kam er in einem total zerknautschten T-Shirt auf dem stand: „Lieber eine unbekannte Erregte, als einen unbekannten Erreger.“ Nein, Hackfleisch-Harry ist nicht ihr Favorit. Aber es gibt Schlimmere.
Gott, ist das Licht im Bad grell und unerbittlich. Das Schminken wird immer aufwendiger. Dieses Problem mit den Augenfältchen hatte sie nicht, als sie noch zur Ü-40-Zielgruppe gehörte. Auf einmal könnte sie weinen. Wie lang macht sie das jetzt schon mit? Seit acht Jahren ist sie jetzt geschieden. Irgendwie typisch gelaufen damals, Kinder groß, der Mann an ihr uninteressiert, aber nicht an anderen und völlig unterschiedliche Interessen. Gelebte Langeweile. Aber ist es jetzt besser? Es laufen so viele Spinner da draußen herum. Nicht eine vernünftige Beziehung in der ganzen Zeit. Sie atmet tief durch. Doch, es ist zwar nicht gut, aber besser als damals. Wann wird es endlich wieder richtig gut? So wie am Anfang ihrer Ehe. Mal sehen, vielleicht hat sie heute Abend Glück.
Zweimal hupt es unten auf der Straße. Petra ist da. Sie holt schon mal den Piccolo aus dem Kühlschrank. Sie trinken sich immer ein wenig in Stimmung bevor es losgeht, die Getränke sind dort unverschämt teuer. Mehr als zwei, drei am Abend sind nicht drin. Es ist schwer genug, finanziell klar zu kommen. Das ist etwas, was früher definitiv besser war. Zurück müssen sie immer mit dem Taxi. Marianne holt dann am nächsten Tag den Wagen und bringt ihn zu Petra. Dort tauschen sie sich dann immer über den gestrigen Abend aus. Viel zu selten gibt es mal etwas Spannendes zu erzählen, etwas Schönes fast nie.
„Hallo Hübsche, Dich haben die Männer gar nicht verdient“, wird sie von Petra begrüßt.
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