ONKEL FRANZ, DER SPASSVOGEL
Zu Weihnachten lädt Tante Lena die Kinder natürlich auch ein. Die Geschenke, die sie für die Kinder gekauft hat, liegen schon schön verpackt unterm Baum. Alle freuen sich – und Tante Lena am meisten. Onkel Franz hat an diesem Tag auch viel Freude am Besuch seiner Nichten.
Zuerst wird gegessen. Alle setzen sich an den neuen Tisch. Onkel Franz sitzt am Kopfende. Tante Lena verteilt den Kuchen. „So, jetzt ist alles komplett. Ach nein, die Kaffeesahne fehlt noch. Wollt ihr Schlagsahne haben?“, fragt Tante Lena. Sie stellt sie auf den Tisch. Voller Vorfreude schaufeln sich meine Schwestern ordentlich Schlagschaum auf ihren Kuchen und fangen an zu essen.
Onkel Franz beobachtet das Geschehen., Die sind voll und ganz mit ihrem Kuchen beschäftigt, da kann ich anfangen’, denkt er. Und er macht sich daran, an einer Kurbel unterhalb der Tischplatte zu drehen. Er dreht den Tisch Stück für Stück nach unten. Die Kinder müssen ihre Oberkörper ziemlich weit runterbeugen, um überhaupt noch an den wundervollen Kuchen heranzukommen. Onkel Franz grinst sich eins ins Fäustchen und hält Blickkontakt zu Tante Lena.
„Der Kuchen ist eine Wucht“, sagt Marlene.
Onkel Franz freut sich unheimlich und kurbelt den Tisch wieder in die Mitte. Jetzt können die Mädels entspannt sitzen. Das macht natürlich nicht so viel Spaß und er dreht den Tisch weiter in die Höhe. Marlene reicht die Tischplatte jetzt bis zum Hals.
„Noch etwas Kakao?“, fragt Tante Lena.
„Ja“, sagt Marlene ganz begeistert und es sieht witzig aus, wie sie ihre Tasse über den viel zu hohen Tisch reicht. Da kann sich Tante Lena kaum noch halten vor Lachen.
„Was ist los?“, fragt Annedore.
„Ist alles in Ordnung“, gibt sie unter Kichern zurück.
Onkel Franz dreht weiter an seiner Kurbel. Die Kinder werden skeptisch. Jetzt müssen sie wieder so gebückt sitzen, wenn sie den Kuchen nicht auf dem Weg zum Mund verlieren wollen. Als Onkel Franz den Tisch zum dritten Mal hoch kurbelt und die Kinder ganz dämlich gucken, weil sie kaum noch über den Tisch blicken können, bekommt Onkel Franz vor Lachen schon fast keine Luft mehr.
„Mann, Onkel Franz, was machst du denn da?“, fragen die Mädchen und sie stürzen sich auf ihn.
Tante Lena hält sich den Bauch vor Lachen, ihr Gesicht ist ganz rot und sie muss sich die Tränen aus den Augen wischen.
„Onkel Franz, zeig mal, wie du das machst“, kreischen sie fast gleichzeitig, und Onkel Franz kurbelt den Tisch stolz hoch und runter. Solch einen Tisch kannten sie noch nicht und sie können nun auch verstehen, warum Tante Lena und Onkel Franz sich so kaputtgelacht haben.
Mittlerweile sind meine Schwestern etwas zu groß für solche Spielchen. Jetzt lädt Tante Lena mich und meine Cousins ein und wir gehen gerne zu ihr. Sie wohnt in einem neu gebauten Wohnblock mit Oma Gerke zusammen.
Opa Gerke und Opa Wedding habe ich noch nie gesehen. Nur ein hässliches Totenbild von Opa Wedding. Ich fand es zufällig im Karton zwischen den alten Fotos. Entsetzt starrte ich das Bild an. Wie kann man so etwas Gruseliges fotografieren?
Wenn ich Tante Lena besuche, sitzt Oma in ihrem Zimmer und nimmt wenig Notiz von mir. Sie ist ziemlich klein und etwas krumm. Ihre Haare sind noch nicht grau und zu einem Dutt gebunden. Sie trägt ständig schwarze Klamotten. Beim Laufen stützt sie sich auf einen Stock. Ich versuche, sie auf mich aufmerksam zu machen. Doch sie scheint keine Lust auf eine Unterhaltung zu haben. Da suche ich schnell das Weite. Tante Lena winkt nur ab und sagt: „Oma ist alt, die will lieber für sich sein. Komm, geh ins Wohnzimmer. Sie ist oft so komisch. Ich glaube, Oma ist eifersüchtig auf mich und Onkel Franz, wenn du verstehst, was ich meine.“ Dabei schaut Tante Lena mich vielsagend an. Doch ich weiß ganz und gar nicht, was sie meint. Da kann sie noch so viel mit ihren Augen rollen.
Im Wohnzimmer ist alles modern eingerichtet. In der Ecke steht ein Glaskasten mit Korallen. Die sehen wirklich schön aus. Auf ihrem Tisch befindet sich in einer Schale künstliches Obst: Weintrauben, Bananen und Apfelsinen. Das Witzige ist, dass es solches Obst in echt bei uns gar nicht zu kaufen gibt. Wenn ich so tue, als würde ich die Bananen auf den Balkon genüsslich verspeisen, dann würden die Leute doch sicher neidisch schauen, denke ich. Doch es sieht mir niemand beim Obstessen zu, als ich mit dem Zeugs auf den Balkon sitze. Wie langweilig, muss ich mir eingestehen.
Hinterm Haus erstreckt sich eine Rasenfläche mit einer Teppichklopfstange. An der habe ich schon herumgeturnt. Dahinter breitet sich ein abgemähtes Roggenfeld aus. Dort kann man die schönsten Kornblumensträuße sammeln, wenn das Korn reif ist. Als wir das einmal taten, freute sich Tante Lena über den ersten Strauß genauso wie über den letzten. Das hat richtigen Spaß gemacht. Daraufhin schenkte ich meiner Mutter auch solch einen Strauß, doch die sagte nur: „Was soll ich mit dem Dreck?“ Tante Lena dagegen kann so wundervoll tun, als würde sie sich freuen. Da wird einem so richtig warm ums Herz. Am liebsten würde ich ihr noch tausend solcher Blumensträuße schenken, um die Freude in ihren Augen zu sehen.
Heute ist kein Kind draußen, mit dem ich etwas unternehmen könnte. Doch ich rieche Mittagessen und renne schnell in die Küche. Oma bekommt ihr Essen aufs Zimmer. Tante Lena und ich essen in der Küche.
„Na, Ramona, was willst du dieses Jahr zu Weihnachten haben?“
Es rattert in meinem Gehirn. Wann bekommt man schon mal solch eine Frage gestellt? Genau genommen fast nie, außer von Tante Lena. Wenn jemand schon danach fragt, dann muss man sich auch etwas ganz Besonderes ausdenken. Etwas, was mir meine Eltern nie im Leben schenken würden, geht es mir durch den Kopf. „Ich hab es! Ich wünsche mir einen Affen“, verkünde ich.
„Einen Affen?“, fragt Tante Lena entsetzt. „Den kann ich dir nicht schenken.“
„Aber über einen Affen würde ich mich doch furchtbar freuen“, bettele ich. Ich muss nur beharrlich an meinem Wunsch festhalten, dann wird er schon in Erfüllung gehen, bin ich insgeheim überzeugt. Doch da habe ich mich gewaltig geschnitten!
In der Weihnachtszeit besuchen wir dann Tante Lena, um unsere Geschenke abzuholen. Meine zwei Cousins bekommen wundervolle Skier, nur ich schau mal wieder dumm aus der Wäsche. So wie voriges Jahr. Die Mädels erzählten mir nämlich, dass Onkel Franz für mich ein tolles Puppenhaus gebastelt hatte, mit allem Drum und Dran, kleinen Möbeln und Teppichen, sogar Licht legte er in das kleine Haus. Aber weil eine klitzekleine Glühbirne nicht funktionierte, bekam Onkel Franz solch einen Wutanfall, dass er das ganze Haus kurz und klein schlug. So ging ich letztes Jahr schon leer aus. An das Ersatzgeschenk kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Nicht, dass ich mich darum reißen würde, mit Puppen zu spielen, aber das Puppenhaus hätte ich doch liebend gern gehabt. So ergreife ich mein Geschenk und bin den Tränen nahe. Tante Lena nimmt mich in den Arm und sagt: „Es tut mir leid, dass du jetzt enttäuscht bist, aber ich habe dir gleich gesagt, dass du keinen Affen bekommen kannst. Du wolltest ja nicht auf mich hören.“ Das ist mir eine bittere Lehre.
Am nächsten Tag fahren wir zu Tante Sonja und die Jungs probieren ihre Skier aus. In der Nähe von Tante Sonja gibt es einen großen Berg mit einer Rodelbahn, die man hier „Dreihöckerbahn“ nennt. Erwin besorgt schnell einen alten Schlitten für mich und wir sausen den Berg hinunter. Bei jedem Höcker werden wir in die Luft geschleudert und landen unsanft wieder auf der Erde. Das Ende der Bahn ist um einiges steiler. Jedes Kind, das runterfährt, hört man dreimal „Aua“ schreien, weil einem beim Aufprall nach jedem Höcker der Hintern tierisch wehtut. Die Fahrt ist erst zu Ende, wenn das Kind juchzt, als würde es mit der Achterbahn einen riesigen Höhenunterschied überwinden. So steil ist das letzte Stück.
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