Man kann beliebige Krankheiten näher betrachten und findet überall Phänomene, die der seelischen Dimension von Krankheiten zuzuordnen sind.
Ich möchte in dem vorliegenden Buch versuchen deutlich zu machen, wie groß und vielschichtig die seelische Dimension von Krankheiten ist. Ich möchte mit dem Buch aber auch zum Nachdenken darüber anregen, dass seelische Phänomene nicht nur eine Rolle im Medizinsystem und krankheitsbegleitend spielen, sondern ganz wesentlich auch Bedeutung für Ursache, Entwicklung, Wirksamkeit von Behandlungen und für Verlauf einer Krankheit haben. Hierbei haben sie möglicherweise die entscheidende Bedeutung. Wenn das so ist, dann hätte dies auch Folgen für das bestehende Gesundheitssystem und den Umgang mit Krankheiten. Die seelischen Phänomene bei Krankheiten müssten sehr viel mehr in den Fokus von Ursachenforschung und Behandlung bei Krankheiten genommen werden. Sie dürften von Therapeuten wie von Betroffenen nicht mehr ausgeblendet werden. Im Gegenteil, der Umgang mit Krankheiten müsste grundsätzlich zuerst hier ansetzen und, daraus abgeleitet, die aktuell herrschenden Behandlungsprinzipien auswählen. Ein solches Vorgehen würde sowohl unser körperbezogenes Bild von Krankheit wie auch das aktuell etablierte Gesundheitssystem umfassend verändern.
Es gibt bereits umfangreiche Veröffentlichungen, die sich kritisch mit unserer derzeitigen Art Medizin zu betreiben, auseinandersetzen, insbesondere in den letzten Jahren. Auch namhafte Ärzte der letzten hundert Jahre haben aus geisteswissenschaftlichem Blickwinkel immer wieder auch die seelischen Dimensionen von Krankheiten angesprochen.
Aber die letzten hundert Jahre zeigen auch einen Trend hin zu immer differenzierterer Diagnostik und Behandlung, die auf den Körper und dessen innere Vorgänge gerichtet sind. Selbst die Psychiatrie als eher geisteswissenschaftlich ausgerichtetes medizinisches Fach hat sich in den letzten 50 Jahren immer mehr hin zu einem biomedizinisch orientierten Fach entwickelt, welches seinen Schwerpunkt auf stoffwechselbedingte Vorgänge und Veränderungen im Gehirn und deren Behandlung mit Psychopharmaka richtet.
Eine Änderung der Prinzipien im Umgang mit Krankheit ist von erheblichen Widerständen begleitet. Herrschende Lehrmeinungen zu verteidigen ist nicht nur eine Verteidigung von Privilegien, sondern auch eine Verteidigung von Überzeugungen. Die Infragestellung dieser Überzeugungen führt nicht automatisch zu einer Veränderung der Überzeugungen. Unsere pluralistische Gesellschaft gerät nicht durch unterschiedliche, nebeneinander existierende Überzeugungen aus den Fugen. Sie ist aber auf die Mehrheitsfähigkeit von Überzeugungen angewiesen. Dies gilt sowohl im politischen System als auch im Umgang mit Krankheit. Insofern ist eine Änderung des medizinischen Systems nur in kleinen Schritten möglich und mehrheitsfähig nur dann, wenn sich Alternativen anbieten, die überzeugend besser sind als das, was aktuell besteht. Also: Eine Hinwendung auf die seelischen Dimensionen von Krankheit im Umgang mit Kranken muss in der Konsequenz eine überzeugendere Wirksamkeit entfalten.
Das vorliegende Buch wird keine Abschaffung bisheriger Behandlungsprinzipien zugunsten neuer oder anderer Behandlungsprinzipien propagieren. Es will lediglich dafür sensibilisieren, dass die Berücksichtigung seelischer Phänomene bei Krankheitsentstehung und -behandlung Aussicht auf einen besseren Umgang mit Krankheit und für größere Erfolge in der Behandlung bietet.
Was ist hier mit Seele gemeint?
Der Begriff der Seele hat in seiner Bedeutung Wandlungen erfahren. Überwiegend wurde in der Seele der nichtkörperliche Teil menschlicher Existenz verstanden, wie Gefühle, Denken, Impulse, Charakter und Persönlichkeit.
Der Begriff der Seele war auch stets religiös besetzt und drückt sich in Formulierungen wie „die Unsterblichkeit der Seele“ oder „Seelenwanderung“ aus. Hiernach gilt die Seele als nichtmaterielle Existenz, die jeweils von Geburt bis Tod mit einem Menschen verknüpft ist und über dessen Tod hinaus weiter existiert.
In dem vorliegenden Buch ist die religiöse Dimension der Seele ausdrücklich nicht gemeint.
Für Seele im hier gemeinten Sinne könnte überwiegend auch der Begriff Psyche oder Geist verwendet werden. Es geht um die menschlichen Eigenschaften des Denkens, Fühlens, Wollens, Handelns, Bewertens, die nicht unmittelbar körperlichen Ursachen zuzuordnen sind. Sie sind zwar auf die Existenz des Gehirns als körperliches Organ angewiesen. Aber wir gehen hier davon aus, dass sie nicht allein auf Vorgänge des Gehirns zurückzuführen sind, sondern das Gehirn und die übrigen Körpervorgänge eine Art Unterstützungsfunktion für die Seele haben. Die Seele ist hier also im Sinne eines primären menschlichen Phänomens mit umfassenden Prägungen durch und Verknüpfungen in die Umwelt und Gesellschaft zu verstehen, die, um wirksam sein zu können und Handlungen initiieren zu können, auf den Körper mit dem Steuerorgan Gehirn angewiesen ist. Vom Gehirn ausgehend werden Sprechwerkzeuge zur Kommunikation, aber auch Muskeln und Gelenke zur Handlung und Fortbewegung angeregt.
Allerdings fasse ich hier den Körper nicht als seelenlosen Apparat oder Automat auf, der nur von einer immateriellen, nicht lokalisierbaren Seele gesteuert wird. Sondern Körper, Umwelt und Seele bilden eine Einheit. Die Seele ist sozusagen in jeder Zelle des Körpers verankert. Die Seele existiert so nicht ohne Körper und der Körper nicht ohne Seele. Danach haben auch als schwer geistesgestört geltende Menschen oder sogenannte Wachkomapatienten eine Seele, die Einfluss auf Handlungen, Denken und Fühlen nimmt, nur anders und vielleicht elementarer. Die Seele ist also im hier gemeinten Sinne eine eigene Kategorie, eine eigene Instanz und der Körper ein Erfolgs-, Ausführungs- und Handlungsorgan mit Rückkopplungen auf die Seele. Zudem wirkt die Seele ebenso auf die unmittelbare Umwelt und diese auf sie zurück. Denn das, was wir in der Umwelt wahrnehmen, bleibt nicht ohne Folgen auf die Seele. Die Seele beeinflusst wiederum die Umwelt, zum Beispiel durch Geschriebenes oder Gesprochenes, durch Bauwerke und Interaktionen von Menschen.
Deshalb verwende ich hier nicht die Begriffe Psyche oder Geist. Denn die seelische Dimension geht darüber hinaus und hat auch Bedeutung für Fragen nach dem Sinn, den Werten, unserer Art der Wahrnehmung und nach dem, was wir glauben. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele oder der Seelenwanderung soll hierbei völlig außer Acht bleiben. Aber bei Fragen wie Sinn des Lebens, Werte, Liebe, Glauben, also Phänomene, die nicht mit wissenschaftlichen Kategorien zu erfassen sind und zudem in der allgemeinen Wahrnehmung nicht als automatische Verschaltungsvorgänge des Gehirns aufgefasst werden, handelt es sich um seelische Vorgänge, die auch eine gewisse Nähe zu religiösen Fragen haben können, und zwar in dem Sinne, dass Religionen sich mit dem Sinn des Lebens, Glauben und Liebe sowie Gut und Böse auseinandersetzen.
Gerade bei Krankheit spielen diese seelischen Phänomene eine ganz wichtige Rolle und können die Krankheit wesentlich beeinflussen.
Der Begriff „seelische Erkrankungen“, der noch immer für psychiatrische Erkrankungen gilt, meint hier allerdings vorrangig psychische Erkrankungen, die nach biomedizinischen Krankheitsverständnis eine körperliche Ursache, und zwar im Gehirn, haben, die sich aber ganz vorrangig in psychischen Auffälligkeiten äußern und auch einer bestimmten Lokalisation im Gehirn nicht hinreichend zuordenbar sind. Demnach gelten hier seelische Erkrankungen als Erkrankungen körperlicher Ursache, deren weitere Erforschung zu dem Ergebnis kommen wird, dass eines Tages ihre Ursachenzusammenhänge bestimmten und nachweisbaren gestörten Vorgängen im Gehirn zugeordnet werden können.
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