Zwei Augen stachen hervor. Meyendorff blickte unwillkürlich noch einmal in die Richtung. Oh ja, zwei bemerkenswerte Augen. Ein Bild spiegelte sich auf seiner Netzhaut, und es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. Was für ein schönes Gesicht, was für sehnsuchtsvolle, tiefe Augen, was für ein zauberhafter Mund, was für eine wunderschöne junge Frau, was für ein berauschender Blickkontakt! Sein Puls pochte wie verrückt. Niemals hatte er ein anmutigeres Geschöpf gesehen.
„Sie wünschen bitte?“, durchschnitt eine unbarmherzige Stimme scharf diesen Moment des Zaubers. Meyendorff blickte verwirrt in die kämpferisch zusammengekniffenen Augen einer etwa vierzigjährigen, dunkelblonden Frau.
„Ich bringe die von Oberst Smekal angeforderten Listen“, sagte Meyendorff, seine Verwirrung eloquenter als erwartet überspielend. Er fühlte sich wie ein Schlauchboot auf hoher See, hin und her geworfen von mächtigen Wogen.
„Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen“, setzte die Frau im Tonfall unerbittlich fort.
„Oberleutnant von Meyendorff.“
Die Frau telefonierte mit dem Oberst. Die drei anderen Frauen hackten wieder in ihre Schreibmaschinen. Alle drei waren jung, um die zwanzig, Schreibkräfte eben, Mädchen aus besseren Familien und von entsprechender Bildung. Von ihnen gab es Tausende im Dienst der Armee, aber keine war so wunderschön wie dieses eine. Ihr braunes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, wie es für Fräuleins im Armeedienst üblich war, dennoch erahnte Meyendorff dessen sinnliche Fülle. Sie saß da in ihrer grauen Montur und bediente mit spielerischer Leichtigkeit die Tasten der Schreibmaschine, grazil und feenhaft, als spiele sie eine romantische Sonate auf dem Klavier. Da hob sie noch einmal kurz ihren Blick, scheu, sittsam und dennoch unendlich kokett.
„Sie können jetzt eintreten, Herr Oberleutnant“, schrillte wieder die schneidende Stimme durch den Raum.
Meyendorff musste sie wiedersehen, koste es, was es wolle, er musste dieses wunderschöne Fräulein wiedersehen.
Als die ersten Häuser der Budweiser Vorstadt auftauchen, trennen sich Karels und meine Wege, wir nicken einander wortlos zum Abschied zu. Ich schleppe mich die Gassen entlang. Ich bin kein Jüngling mehr, der Tag auf den Beinen fordert mich, insbesondere, wenn die fetten Brocken verloren sind. Diese Verbrecher. Die schlimmsten Banditen tragen immer Uniform, das weiß doch jedes Kind. Jetzt nur nach Hause und ins Bett. Liegen, schlafen, ausruhen bis zum Morgengrauen. Mein Lohn für dreißig Kilometer Rucksackschleppen ist diesmal sehr dürftig. Aber was soll’s, besser als nichts. Ein bisschen Brot, eingemachtes Gemüse. Was will man mehr?
In den Gassen ist es ruhig, ein paar Kinder lungern herum. Sie haben keine Lust zum Herumtollen, sind einfach zu ausgedörrt vom Hunger. Beiläufig streift mein Blick einen Bretterzaun. Stand da nicht eben jemand im Hauseingang? Ich sehe genauer hin, kann aber nichts entdecken. Muss mich wohl geirrt haben, das kommt bestimmt von der Erschöpfung. Die Kinder mustern mich prüfend und grüßen. Plötzlich bin ich von ihnen umringt.
„Haben Sie etwas zu essen?“, fragt mich ein Bursche mit großen Augen.
„Nein, nichts. Was soll ich haben?“
Die nächsten Straßenräuber, wenn ich denen auch noch etwas abgebe, bleibt für mich nichts mehr.
„Aber der Rucksack. Sie waren doch hamstern“, sagt die Schwester des Burschen.
Ich kenne die Kinder alle, sie wohnen in der Nachbarschaft.
„Kinder, geht, ich habe nichts. Die Gendarmerie hat mir alles genommen.“
Die Kinder wollen es nicht glauben, aber ich habe jetzt keine Nerven für lange Erklärungen und jage sie fort. Ich schleppe mich um die Ecke, zwei Gassen noch bis zu meiner Bretterbude.
„Überleben.“
Ich lausche. Überleben. Der alte Gruß der Lagerinsassen von Sokal. Überleben. Das eine mir zugeflüsterte Wort bricht für Augenblicke den Damm des Vergessens und all die grauen Jahre meiner Lagerzeit rollen wie eine Lawine über mich hinweg. Ich blicke mich um. Hinter einem Holunderstrauch steht ein Mann und beobachtet mich. Also habe ich zuvor doch recht gehabt, es hat mich doch jemand angestarrt.
„Wer sind Sie?“, frage ich.
Wut schwingt in meiner Stimme. Der Mann tritt hinter dem Strauch hervor und bleibt in gemessener Entfernung stehen.
„Sie kennen mich. Ein Mann wie Sie vergisst keine Gesichter. Oder täusche ich mich?“
Ja, ich kenne dieses kantige Gesicht. Josef Schachner ist einer der vielen Intellektuellen, die in den Dreißigerjahren ein k. u. k.-Arbeitslager mit ihrer Anwesenheit beehrt haben. Ich kenne ihn flüchtig, nur sein Gesicht und sein Name sind mir vertraut. Ich weiß, dass er längere Zeit in Baracke 7 einquartiert war. Da ich in jener Zeit in Baracke 19 war und auf anderen Baustellen malochen musste, weiß ich nicht viel von ihm. Bloß, dass er ein paar pazifistische Aufsätze in Untergrundzeitungen veröffentlicht hat. Das hat gereicht, um ihn in einem Arbeitslager anzutreffen. Man weiß, wie schnell das nach den Schaukal-Dekreten gegangen ist. Ein Künstler meldet sich mit revolutionären, kommunistischen oder pazifistischen Sprüchen zu Wort, wunderbar, die Arbeitskolonnen in den galizischen Einöden warten schon auf ihn.
„Nein, Sie täuschen sich nicht. Ich kenne Ihr Gesicht.“
„Gehen wir ein Stück, sonst fallen wir auf. Ich begleite Sie.“
Meine Sinne sind hellwach, ich trotte langsam dahin und spähe um mich.
„Ich denke nicht, dass wir beobachtet werden“, sagt Schachner. „Ich war sehr vorsichtig.“
„Was wollen Sie? Warum schleichen Sie mir nach?“
„Ich will nur ein wenig mit Ihnen reden, mich nach Ihnen erkundigen.“
„Mir geht’s beschissen, ich habe Hunger und bin müde. Das ist alles, und nun verschwinden Sie wieder!“
„Herr Kellermeier, Sie sind unser Mann. Sie sind genau der Richtige. Gut, dass ich mich an Sie erinnert habe.“
„Sind Sie ein Kettenhund des Kriegsüberwachungsamtes?“
Schachner räuspert sich.
„Ich ein Kettenhund? Ich bin weder vom Kriegsüberwachungsamt noch vom Hofgeheimdienst. Ich bin nur ein gebildeter Lumpensack, der sein Elendsquartier in der Wiener Vorstadt kaum sauber halten kann. Nein, ich bin aus privaten Gründen in Budweis.“
„Wohl wegen des angenehmen Klimas und des reizvollen Hinterlandes?“
Schachner lächelt, er blickt nur kurz zu mir hinüber, dann lässt er den Blick wieder schweifen.
„Sie haben sich den Spott in der Stimme erhalten. Das ist schön, das ist sehr schön. Nein, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass der Widerstand gegen den Krieg weitergeht. Herr Kellermeier, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie gebraucht werden.“
Ich schaue empor in den Himmel, ein paar Regenwolken ziehen auf, der Abend senkt sich über die Stadt. Danach blicke ich Josef Schachner in die Augen.
„Ich möchte Sie anwerben, Herr Kellermeier. Und zwar als Spion.“
Ich schmecke einen bitteren Geschmack auf der Zunge.
„Soso, als Spion. Haben Sie sich das auch gut überlegt? Vielleicht bin ich ja ein Kettenhund des Kriegsüberwachungsamtes.“
Schachner verzieht sein Gesicht.
„Nun, wenn das so ist, werde ich morgen um diese Zeit an einem Laternenpfahl hängen. Das ist mein Risiko als Widerstandskämpfer.“
Wir gehen schweigend ein paar Schritte.
„Wissen Sie“, hob Schachner an zu sprechen, „dass ich als junger Mann Ihre Gedichte bewundert habe? Nein, wissen Sie wahrscheinlich nicht. Wir waren damals zu dritt, zwei junge Burschen und ein Mädchen, wir waren Kinder, als Sie und Ihre Alterskollegen draußen in Galizien und am Isonzo gekämpft haben. Wir wurden erwachsen und sahen all die Krüppel, all die Männer, denen ein Bein, ein Auge, die halbe Lunge fehlten, und wir sahen die Lemuren und Larven der Oberschicht, die adeligen Generäle, die sich vollgefressen haben, während Millionen hungerten, die Industriellen, die sich Konkubinen in Seidenwäsche gehalten haben, während den Soldaten an der Front die Hoden weggeschossen wurden. Wissen Sie, dass mein Vater Lehrer und maßgeblich daran beteiligt war, dass sich seine ganze Klasse 1914 geschlossen für die Front gemeldet hat? Ja, die steirischen Burschen waren gute Soldaten, nur sahen die wenigsten ihre Heimat wieder. Ich habe ihn gehasst dafür, ich habe ihn gehasst, weil er dumme, kleine Verse geschrieben hat. Aber es gab auch andere Literatur. Meine Freunde und ich waren jung und zornig, aber wir waren sprachlos in unserer provinziellen Enge. Zumindest am Anfang. Und dann gelangten wir an die Gedichte eines Albert Ehrenstein, eines Fritz Karpfen, eines Georg Trakl und eines Valentin Kellermeier. Es war wie eine Offenbarung. Ein neuer Weg, eine neue Sprache. Anstatt leerer Floskeln und hohler Phrasen hörten wir nun echtes Leid, echten Zorn, echte Freude am Leben und echte Furcht vor dem Tod. Natürlich mussten wir von der Provinz in die Stadt flüchten. Wohin? Natürlich in die große Kaiserstadt, die mit geraubtem italienischem Geld hochpoliert wurde und im Walzertakt und mit Marschmusik die große Renaissance der Donaumonarchie feierte. Eitle Fassaden, morscher Prunk, vergoldete Bestien, das haben wir in Wien gesehen. Und auch das Elend in den Arbeiterbezirken, die Lumpenburgen, die Bretterbuden, die Kriegsinvalidenhäuser. Wir waren wütend und wir konnten nun sprechen. Gerfried, mein Freund, ist bei einem Verhör von einem Geheimpolizisten erschossen worden. Offiziell ist er natürlich an Lungenentzündung gestorben, wie alle, aber ich habe herausgekriegt, dass sie ihm schlicht und einfach aus Versehen in den Kopf geschossen haben. Wer es getan hat, habe ich nie erfahren, aber es ist egal, wie der Name seines Mörders gelautet hat, denn im Grunde waren alle Geheimpolizisten seine Mörder. Kathrin ist in Moldawien an Fleckfieber gestorben. Haben Sie vom Frauenlager in Moldawien gehört? Bestimmt. Sie hat es nicht überlebt. Und ich landete im Lager, in dem ich Valentin Kellermeier zumindest aus der Ferne sehen konnte. Nun ja, das Leben ist über uns hinweggerollt wie eine Dampfwalze, diesmal keine russische, sondern eine österreichisch-ungarische.“
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