»Ich kann mit dir wieder runterfahren und wir warten dort auf Kanika, wenn du möchtest.«
Der Vorschlag klang schön, doch Hope schüttelte den Kopf. Jetzt, wo sie schon hier oben stand, wollte sie auch die Stadt sehen.
Auf der Toilette angekommen, suchte Hope sich die erstbeste Kabine und übergab sich. Sie bekam gar nicht mit, dass ihr jemand in die Kabine folgte, sondern nahm dies erst wahr, als jemand ihr über den Rücken streichelte. Sie erschrak so sehr, dass sie sich beinahe verschluckte.
»Ganz ruhig, ich bin es nur«, ertönte Sarahs ruhige Stimme, während ihr weiter über den Rücken gestreichelt wurde.
Nachdem Hope ihren gesamten Mageninhalt losgeworden war, betätigte sie die Spülung und lehnte sich erschöpft an die Kabinenwand. Dabei blickte sie zu Boden. Sie hatte sich vor Sarah übergeben. Das war so peinlich. Die Zahlmeisterin hockte sich zu ihr und streichelte ihre Wange.
»Wie geht es dir?«
»Ich will hier weg.«
»In Ordnung. Du kannst dich frisch machen und ich sage Kanika Bescheid.«
»Ist mit dir alles in Ordnung? Es tut mir so leid, hätte ich gewusst, dass es dir dann so schlecht geht, dann hätte ich das nie vorgeschlagen.«
Hope schüttelte den Kopf.
»Es geht schon wieder. Du konntest es ja nicht wissen.«
Der Aufzug nach unten war glücklicherweise leerer. Zu Hopes Entsetzen knurrte ihr Magen in genau dem Moment laut, in dem sie das Gebäude verließen. Wie konnte sie nur ausgerechnet jetzt Hunger haben? Sarah kicherte leise.
»Ich denke, wir sollten etwas essen gehen.«
»Sind du und Felicia wirklich die Kinder von Owen? Also seid ihr Schwestern?«, fragte sie neugierig, woraufhin Sarah lächelnd den Kopf schüttelte.
»Nicht direkt. Felicia wurde adoptiert, als sie noch ein Baby war. Ich kam erst viel später in die Familie, wurde aber von Owen wie eine Tochter behandelt.«
»Achso… und was ist mit Owens Frau?«
Sarah sah sich um und lehnte sich über den Tisch. Dann begann sie, sehr leise zu sprechen.
»Sie waren ein gleichgeschlechtliches Paar. Felicias anderer Vater hat sich das Leben genommen.«
Sarah sprach so leise, dass Hope sie kaum verstehen konnte. Doch das, was sie hörte, überraschte sie. Felicias Vater hatte sich umgebracht?
»Wie schrecklich.«
Es war das einzige, was ihr dazu einfiel.
Hope legte den Kopf schief.
»Das reicht!«
»Sarah, es tut mir leid.«
»Ist schon gut.«
Kurz nach dem Kellner kam auch Kanika wieder und setzte sich zu den beiden Frauen. Für den köstlichen Kuchen hatte sich die Wartezeit wirklich gelohnt. Sie aßen zum Großteil schweigend, nur ab und an wurde über Belangloses geredet. Wirklich lange blieben sie nach dem Essen nicht. Sarah zahlte direkt und schlug vor, zurück zu Owen zu gehen, mit der Begründung, der Weg sei weit. Doch man konnte ihr ansehen, dass sie sich schlichtweg unwohl fühlte. Auf dem Weg zurück wurde Kanika das Schweigen zu viel. Sie sah zu Hope und Sarah.
»Ist irgendetwas passiert, während ich auf Toilette war?«
Sarah schüttelte den Kopf.
»Nein, wie kommst du darauf?«
»Ihr habt was verpasst! Jeff hatte Torte dabei, er ist Konditor! Aber wir haben sie schon alleine gegessen«
Sarah lächelte lieb.
»Das ist nicht schlimm. Wir waren vorhin in einem Café. Ich würde aber Tee für alle machen. Hope, würdest du mir helfen?«
»Kannst du bitte die Tür schließen?«, bat Sarah in ruhigem Tonfall. Dabei sah sie Hope nicht an.
»Ähm… klar…«, antwortete Hope unsicher und schloss die Tür. Dann blickte sie nervös zu Sarah. Ihr war schon bewusst gewesen, dass die Zahlmeisterin wohl keine Hilfe beim Teekochen brauchte. Aber warum sollte Hope dann mitkommen? Und wieso sollte sie die Tür schließen?
Hope fühlte sich auf einmal so schuldig. Sie hatte doch die ganze Zeit gesehen, dass Sarah sich unwohl fühlte, und trotzdem hatte sie dann solche Fragen gestellt.
Sarah nickte leicht.
»Ich verstehe…«
»Sarah?«
»Ja?«
»Hat deine Familie dich wirklich rausgeschmissen, weil du doch kein Junge warst?«
»Du musst nicht antworten. Entschuldigung, ich…«
»Nein, ist schon gut.«
Sarah atmete durch und schien zu überlegen, was genau sie jetzt sagen sollte.
Verwirrt legte Hope den Kopf schief.
»Aber du bist doch gar nicht schwul?«
»Ich weiß… Aber das habe ich erst herausgefunden, als ich bei meiner Schwester gewohnt habe. Damals habe ich… naja…«
Sarah wendete peinlich berührt den Blick ab und begann, herumzudrucksen. Irgendwann strich sie sich ein paar Haare aus dem Gesicht und atmete erneut durch.
»John? Der John von Molly?«, fragte Hope fassungslos, »du hattest mit ihm eine Beziehung?«
»Wusste Molly davon?«, fragte Hope leise. Sarah seufzte und nickte leicht.
»J… ja… aber ich glaube, außer Felicia und ihr weiß es sonst niemand. Bitte sag es nicht weiter. Es war zwar vor Molly… aber… John ist ihr Mann… und sie haben Kinder… Ich will nicht, dass die Crew schlechter von ihm denkt …«, gestand Sarah leise.
Sarah seufzte leise.
Während sie sprach, wurde Sarahs Stimme immer zittriger.
»Zum Glück habe ich etwas später Felicia kennen gelernt. Sie und ihr Vater haben mich aufgenommen.«
Hope musterte Sarah.
»Und die Umwandlung? Wie hast du das gemacht?«
Sarah lächelte leicht und senkte den Kopf.
»Hope, ich glaube nicht, dass ›Umwandlung‹ das richtige Wort ist. Es klingt so, als hätte sich an mir etwas geändert. Aber eigentlich wurde mein Äußeres ja nur darauf angepasst, wie ich mich fühle…«
»Die Crew hat mir dabei geholfen. Almyra hat mich einem Arzt vorgestellt und… und Juana hat mich finanziell unterstützt.«
Neugierig lehnte Hope sich vor.
»Das Wasser!«
***
Seit ihrem letzten Aufenthalt in Spanien hatten alle drei Mädchen sich angewöhnt, Namensschilder zu tragen. Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass Almyra sich ihre Namen irgendwann merken können würde, doch die Mechanikerin war sich nicht so sicher, ob dieser Tag irgendwann kommen würde. Vielleicht, wenn sie mehr mit ihnen zu tun haben würde, doch trotz der gemeinsamen Arbeit im Maschinenraum sprachen sie sehr selten miteinander. Und solange die Juana nicht in der Luft war und lediglich Licht brauchte, gab es nicht viel Arbeit.
»Scarlett?«
Kaum hatte Almyra nach ihr gefragt, stand die junge Frau mit dem vernarbten Gesicht auch schon vor ihr und wirkte ganz aufmerksam.
»Es reicht, wenn nur eine von euch hier unten ist und ihr euch abwechselt. Volle Besatzung brauchen wir erst wieder, wenn wir weiterfliegen.«
»Du bescherst mir fast einen Herzinfarkt und willst dafür jetzt auch noch gekuschelt werden? Mensch, bist du verwöhnt.«
»Isabella, ich wollte nur…«, Almyra verstummte, als sie sah, warum Isabella so fluchte. Sie saß an ihrem Nähtisch, eine Bürste in ihrer linken Hand und versuchte, ihren Pony zu bürsten. Verwirrt kam Almyra ein paar Schritte näher und musterte Bella.
»Was wird das?«
»Wonach sieht es denn aus? Ich versuche, mir die Haare zu bürsten«, antwortet ihre beste Freundin gereizt.
»Das sehe ich schon, aber warum denn? Keine Lust mehr auf die Dreadlocks?«
Isabella bürstete so hektisch, es wirkte beinahe, als schlüge sie einfach mit der Bürste auf ihre Haare ein. Viel hatte sie bisher nicht herausgebürstet; lediglich den Pony. Sie hatte das ja auch jahrelang nicht mehr machen müssen.
Almyra seufzte und setzte sich auf den Nähtisch.
»Sie hatte ja Recht«, seufzte Isabella leise, »eine Prinzessin hat kein verfilztes Haar. Und auch keine krumme Nase und keine Narben und… naja, du weißt ja.«
Читать дальше