»Hätte sie mir die Nachricht nicht so spät geschrieben, wäre ich nicht so wütend«, denken Sie vielleicht. Aber: Das Verhalten anderer kann zwar durchaus der Katalysator für Ihre intensiven Gefühle sein, doch wenn andere mit einer ähnlichen Situation konfrontiert werden, werden sie nicht unbedingt so von ihrem Gefühl mitgerissen, wie Sie. Für Sie ist diese Situation einzigartig: Sie sind die einzige Person, die diese emotionale Erfahrung macht, unabhängig davon, wodurch sie ausgelöst wurde.
ÜBERZEUGUNG: ES IST IMMER GESUND, MEINE INTENSIVEN GEFÜHLE AUSZUDRÜCKEN
Herauszufinden, was Ihnen ein Gefühl sagen will, ist – wie Sie in diesem Buch erfahren werden – etwas völlig anderes, als immer und immer wieder mit verschiedenen Leuten darüber zu sprechen, zwanzig Seiten Tagebuch darüber vollzuschreiben oder immer wieder aufs Neue darüber nachzugrübeln. Das sind Reaktionen, die die Intensität der Gefühle tatsächlich noch steigern, sie länger andauern lassen und den »Grübelmuskel« trainieren. Studien zum Thema Wut zeigen beispielsweise, dass es Sie noch wütender machen wird, wenn Sie Ihre Wut ausdrücken. Dampf abzulassen ist weder zuträglich für Ihren Geist noch für Ihren Körper und wird Ihre Beziehungen nicht verbessern (Tavris 1989).
ÜBERZEUGUNG: BELASTENDE ODER QUÄLENDE GEFÜHLE WEISEN MICH STETS DARAUF HIN, WAS ICH ZU TUN HABE
Es ist sicher richtig, dass intensive Emotionen Ihnen und anderen vermitteln, was für Sie wichtig ist, aber schnelles, unüberlegtes Handeln aufgrund dieser Gefühle – ohne innezuhalten und zu bewerten, was das Wesentliche an der Situation ist – kann tatsächlich sehr verletzend für Sie selbst und die Menschen, die Sie lieben, sein. Intensive Gefühle zu erleben ist eine Sache, aber zu reagieren, ohne zunächst für sich zu klären, ob Ihr Handeln effektiv sein wird, eine ganz andere.
ÜBERZEUGUNG: ALLE UNANGENEHMEN GEFÜHLE SIND SCHLECHT FÜR MICH
Belastende oder quälende Gefühle sind schwer auszuhalten und manchmal sehr schmerzhaft – wie eine Verbrennung dritten Grades. Mit dieser Einschränkung: Unangenehmen Gefühle zu haben, bedeutet nicht unbedingt, dass das schlecht ist. Unangenehm, ja, aber nicht immer katastrophal. Manchmal können Ihnen diese Gefühle tatsächlich wichtige Botschaften darüber vermitteln, worauf es für Sie in einer bestimmten Situation ankommt. Nachdem wir uns nun den schlechten Ruf unangenehmer Gefühle genauer betrachtet haben, schauen Sie, ob Sie die Überzeugungen identifizieren können, bei denen Sie eine Resonanz feststellen, und ob Sie dieser Überzeugungen beim Auftauchen schwieriger Situationen gewahr sein können.
Emotionaler Lärm
Jede/r von uns erlebt alle möglichen Emotionen in unterschiedlicher Intensität, Ausprägung und Geschwindigkeit. Es ist, als würde unsere emotionale Maschinerie ständig Lärm machen. Beginnen wir nun zunächst mit der Wahrnehmung der eigenen Gefühle, damit Sie anfangen können, die verschiedenen Elemente dieses emotionalen Lärms zu unterscheiden: emotionale Reaktionen, körperliche Empfindungen, Gedanken, Bilder, Erinnerungen und Handlungsimpulse.
Übung: Den eigenen emotionalen Lärm wahrnehmen
Diese Übung besteht aus zwei Teilen und für beide benötigt man ungefähr 5 Minuten.
Teil 1: Wählen Sie eines Ihrer Lieblingsmusikstücke oder Lieder, bereiten Sie sich darauf vor, es abzuspielen, nehmen Sie ein Blatt Papier zur Hand und stellen Sie sich einen Küchenwecker oder Timer, um dem Lied 2 Minuten lang zu lauschen. Wenn der Wecker klingelt, nehmen Sie Ihr Tagebuch zur Hand und beantworten Sie folgende Fragen:
• Welche körperlichen Reaktionen haben Sie wahrgenommen?
• Haben Sie eine bestimmte Körperempfindung bemerkt? War diese Empfindung statisch oder hat sie sich verändert?
• Welches Gefühl oder welche Gefühle sind aufgetaucht? Können Sie sie benennen?
• Waren diese körperlichen Empfindungen und Gefühle von Gedanken, Bildern oder Erinnerungen begleitet?
• Haben Sie irgendwann versucht, etwas an Ihren Gefühlen zu ändern, sie zu unterdrücken oder ihnen zu entfliehen?
Manchmal fällt es meinen Klient/innen schwer, das Gefühl präzise zu benennen. In diesem Fall könnten Sie sich eine Auflistung von Emotionen im Internet anschauen.
Teil 2: Stellen Sie Ihren Timer auf 2 Minuten ein, schließen Sie die Augen und rufen Sie sich eine (nicht allzu) schwierige Situation ins Gedächtnis, mit der Sie in der vergangenen Woche konfrontiert waren. Es kann eine Situation sein, die sich in der Schule oder am Arbeitsplatz zugetragen hat oder mit Freunden oder Verwandten. Versuchen Sie, sich die Situation so lebendig wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Nehmen Sie die Erinnerung aufmerksam in allen Einzelheiten wahr, die damit verbundenen Geräusche und die Besonderheiten dieses herausfordernden Moments. Beantworten Sie danach dieselben Fragen wie im ersten Teil der Übung.
Shelly erinnerte sich beispielsweise an ein Telefongespräch mit ihrer Mutter, Amanda, und an ihre Enttäuschung, als sie dabei erfuhr, dass Amanda sie nicht besuchen würde. Shelly bemerkte, wie sich in ihrem Brustkorb alles zusammenzog, und sie verspürte den starken Impuls, ihrer Mutter zu sagen, wie egoistisch und rücksichtslos es von ihr sei, sie nicht zu besuchen, obwohl Shelley sie im Lauf der Jahre so oft darum gebeten hatte. Shelley nahm wahr, wie stark und überwältigend diese Impulse während des Telefonats und sogar noch danach waren.
Haben Sie bemerkt, dass eine emotionale Erfahrung keine statische Angelegenheit ist? Sie setzt sich aus vielen kleinen Einzelkomponenten zusammen: körperlichen Empfindungen, Handlungsimpulsen und Gedanken – und sie tauchen alle auf einmal auf. Denken Sie daran, dass ich, wenn ich »Gedanken« sage, auch innere Bilder und Erinnerungen meine, nicht nur Wörter oder eine Folge von Wörtern. Jede Emotion, die wir erleben, ist tatsächlich ein Mikrosystem. Wenn Sie hochsensibel sind, werden Sie jeden Tag mit Hunderten solcher Mikrosysteme konfrontiert, mit einem Gefühl nach dem anderen, und Sie erfahren sie mit maximaler Intensität und in rascher Folge.
Der zweite Aspekt, auf den ich Sie im Zusammenhang mit dieser Übung aufmerksam machen möchte, ist dieser: Wenn Sie Ihre Emotionen wahrnehmen, beschreiben Sie eigentlich das Gefühl, die Empfindungen, Gedanken, Impulse und inneren Bilder, die damit einhergehen. Wenn Sie sagen »Ich nehme eine schreckliche Erinnerung wahr«, ist das im Grunde keine Wahrnehmung, aber wenn Sie sagen, »Ich nehme die Erinnerung daran wahr, wie mein Auto kaputt ging«, dann ist es Wahrnehmen.
Wahrnehmen, was was ist
Lesen Sie die folgenden Zitate, in denen zwei verschiedene Reaktionen auf die Nachricht über den Hurrikan »Irma« in Florida zum Ausdruck kommen:
• »Ich war schockiert, traurig und machte mir Sorgen um alle in Florida, und dann verspürte ich das dringende Bedürfnis, etwas zu tun.«
• »Ich kann mich nicht genau daran erinnern, was passiert ist. Ich weiß nur, dass ich gemischte Gefühle hatte und als Nächstes erinnere ich mich daran, dass ich mich niedergeschlagen fühlte.«
Was ist Ihnen aufgefallen? Die erste Person beschreibt eine spezifische emotionale Reaktion und die zweite machte eine vage Aussage über ihre Erfahrung. Warum ist das wichtig? Eine von Kashdan et al. (2015) an der George Mason University in Fairfax, Virginia, durchgeführte Studie mit Probanden, die mit sozialen Ängsten zu kämpfen hatten, kam zu dem Ergebnis, dass Menschen, die belastende Emotionen erleben, diese aber nicht genau identifizieren können, mit höherer Wahrscheinlichkeit auf andere, nicht hilfreiche Bewältigungsstrategien zurückgreifen wie Alkoholmissbrauch oder Aggression.
Was bedeutet dieser Befund für die Situation von Hochsensiblen? Hochsensible fühlen zu intensiv, zu schnell. Das bedeutet, dass sie innerlich überwältigt werden, denn sie wissen nicht, wie sie ein Problem lösen können, weil sich alles so komplex anfühlt. Wenn Sie allerdings lernen, innezuhalten und die Auslöser der emotionalen Maschinerie zu identifizieren, macht das einen großen Unterschied im Hinblick auf ihre Reaktion. Versuchen Sie also, wenn sich alles kompliziert anfühlt, den Ausgangspunkt zu finden. Fragen Sie sich: »Was war das erste Gefühl, das meine emotionale Maschinerie in Gang gesetzt hat?«
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