Er bezweifelte auch, dass diese höheren Bewusstseinszustände dem „Ungeborenen, Unbedingten und Ungeschaffenen“ des Nirvana entsprechen sollten, denn ihm war deutlich bewusst, dass er diese Erfahrungen mit Hilfe seiner yogischen Kräfte gemacht hatte.
Viele, die diese Worte Buddhas gelesen haben, sind zu dem Schluss gelangt, dass er den Yoga und seine Mittel aufgrund seiner Erfahrungen mit seinen beiden Lehrern – die ihm offensichtlich Samkhya-Yoga und upanischadisches Denken gelehrt hatten – verworfen habe. Tatsächlich integrierte er diese meditativen Versenkungen und andere yogische Techniken jedoch in seine eigene Lehre und praktizierte sie ein Leben lang. In der oben zitierten Passage wird allerdings deutlich, dass er die metaphysischen Interpretationen der meditativen Erfahrung, die seine Lehrer gegeben hatten, nicht akzeptieren konnte. Seine eigene Integrität und Wahrheitsliebe, aber auch der Skeptizismus gegenüber metaphysischen Anschauungen, der sein Lehren ein Leben lang auszeichnete, erlaubten es ihm nicht, eine Deutung zu akzeptieren, die nicht von der Erfahrung bestätigt wurde. Wir können also festhalten, dass Buddha zwar die traditionelle Metaphysik des Yoga verwarf, doch in seinem unerschütterlichen Vertrauen auf eine direkte Verwirklichung erweist er sich als einer der größten Yogis Indiens.
Als ich zum ersten Mal von Buddhas Enttäuschung über die erhaltenen Lehren las, wurde ich sofort an meine eigene Erfahrung erinnert: Wie wunderbar ruhig und friedvoll ich mich nach der „Yoga-Praxis“ fühlte, und wie schnell ich in das Leiden der Anhaftung und Abneigung – Begierde und Zorn – zurückfiel. Als ich schließlich Yoga-Lehrer wurde, spürte ich immer deutlicher, dass viele Schülerinnen und Schüler ähnliche Erfahrungen zu machen schienen. Glücklich verließen sie den Unterricht, aber sobald sie sich wieder in der „Welt der Sinneseindrücke verfingen“, fanden sie sich in ihrem bedrückenden Leben wieder – aus der Glückseligkeit kehrten sie auf direktem Weg in den Alltagsstress zurück. Demnach stellt sich eine Frage: Wie können wir diesen offenbar endlosen Kreislauf anhalten, dieses ununterbrochene emotionale und psychische Auf und Ab? Ganz allgemein können wir in unserem Leben, insbesondere jedoch in unserer Yoga-Praxis, die Bewegungen von samsara verfolgen. Dieser zyklische Prozess von „Geburt und Tod“ ereignet sich immer wieder, von Moment zu Moment! Wie sollen wir damit umgehen?
Nachdem Siddhartha Uddaka Ramaputta verlassen hatte, beschritt er den Pfad der Askese. Viele Einsiedler, die in den Wäldern lebten, waren der Ansicht, dass sie so ihr Karma zum Stillstand bringen und die Befreiung erlangen könnten. Sechs Jahre lang nahm Gautama extreme Entbehrungen auf sich, bis er schließlich dem Tod näher war als der Befreiung, die er gesucht hatte. Trotz Askese und Selbstkasteiung spürte er, wie sein Körper nach Aufmerksamkeit verlangte und ihn auch weiterhin Anhaftungen und Abneigungen quälten. Tatsächlich schienen die Selbstkasteiungen seine Obsession mit dem Körper nur noch zu verstärken, etwa so, wie ein magersüchtiger Mensch vom Körper besessen ist, den er zu verleugnen sucht.
Er fragte sich, ob es nicht noch einen anderen Weg gebe. Als er darüber nachdachte, erinnerte er sich an ein Erlebnis aus seiner Kindheit, als er als Neunjähriger spontan zu meditieren begann. Es war während des Rituals des ersten Pflügens der Felder gewesen. Der junge Siddhartha beobachtete, wie ein Wasserbüffel unter der heißen Sonne den Pflug hinter sich herzerrte und dabei die Erde umgrub und die zuckenden Würmer zerschnitt, auf die sich die Vögel herabstürzten, die sie mit ihren Schnäbeln aufpickten. Mit dem Samen des Mitgefühls im Herzen setzte sich der Junge in den kühlenden Schatten eines Rosenapfelbaums. Dort, „weit entfernt von sinnlichen Begierden und unheilsamen Dingen“, verweilte er, „in dem Glück und der Zufriedenheit, die aus der Abgeschiedenheit kommen“, in einer ersten Meditation, die noch von Nachdenken und Erforschen begleitet war.
Daran erinnerte sich Siddhartha nun, viele Jahre später, und fragte sich: „Ist dies vielleicht der Weg, der zur Erleuchtung führt?“ In diesem Moment tauchte tief aus seinem Inneren eine Antwort auf: „Ja! Das ist ganz sicher der Weg, der zur Erleuchtung führt!“
Das sind gute Neuigkeiten für uns alle: Wir müssen uns nicht quälen, um Befreiung zu finden, denn Nirvana existiert auf natürliche Weise in allen Menschen. Es ist mit der Textur unserer menschlichen Existenz verwoben. Als Kind, ohne Meditationsunterweisungen, hatte Siddhartha den Geschmack des Nirvana spontan empfunden.
Nehmen Sie sich jetzt bitte einen Moment Zeit, schließen Sie die Augen, und erinnern Sie sich an die Religion, die Sie als Kind praktizierten. Nicht die Religion, in der Sie erzogen wurden, sondern die Religion, die noch vor der Religion lag, als der weite Himmel und die wunderbare Erde noch wirklich eins waren. Vielleicht lagen Sie damals auf dem Rücken und betrachteten die Wolken, vielleicht waren Sie vollkommen vom Kommen und Gehen der Wellen am Strand verzaubert oder aber Ihr Blick drang tief in das Adergeflecht eines Blattes ein. Ich kann mich an Zeiten erinnern, als es regnete und ich ganz und gar in das Wunder eines Regentropfens versunken war, der die Scheibe herabfloss. Ein anderes Mal beobachtete ich so konzentriert einen Käfer, der über eine Erdbeerpflanze krabbelte, dass seine Perspektive zu meiner eigenen wurde.
Erinnern Sie sich daran, wie es war, durch eine Welt der Wunder zu laufen? Können Sie sich darauf besinnen, je durch eine Welt der reinen Freude gereist zu sein, mit einem Glücksgefühl, das noch nicht von Anhaftung oder Abneigung befleckt war? Was ist aus dieser Welt geworden? Yoga, einschließlich Buddhas Yoga, wird oft „der Pfad der Umkehr“ genannt – eine Umkehr zurück zu unserem wahren Zuhause, von dem wir schließlich erkennen werden, dass wir es nie verlassen haben.
Als Buddha sich an seine Kindheit erinnerte, verstand er, dass wir durch einen Yoga des Mitgefühls und der Einsicht ein inneres Potenzial entwickeln können, das wir alle bereits miteinander teilen. Dieses Potenzial kann uns zu ceto-vimutti führen, ein Begriff aus dem Pali, der „Befreiung des Geistes“ bedeutet und ein Synonym für Erleuchtung ist. Wir können einen Yoga praktizieren, der zur Befreiung des Geistes von seinen Konditionierungen und erlernten Verhaltensweisen führt, weg von seiner Tendenz, sich der von Moment zu Moment gelebten Erfahrung unserer Existenz zu entziehen.
Wir müssen dies mit unserer menschlichen Natur tun und nicht, indem wir gegen sie ankämpfen oder sie unterdrücken. Buddhas zukünftige Praxis entwickelte und unterstützte heilsame Geisteszustände, wie zum Beispiel Mitgefühl und liebevollen Gleichmut, die er in seiner spontanen Meditation unter dem Rosenapfelbaum erfahren hatte. Er erkannte, dass er sich nicht davor schützen musste, die reine Freude zuzulassen, die er als Kind erfahren hatte, da sie frei von Anhaftung und Abneigung gewesen war. Ihm begann das deutlich zu werden, was er nach seiner Erleuchtung den „Mittleren Weg“ nennen sollte, der zwischen Sinnenlust und Askese liegt.
Die spezielle Technik, die er entwickelte, um mit seiner menschlichen Natur zu arbeiten, bezeichnete er als die Entwicklung von „Achtsamkeit“ (Pali: sati; Skrt.: smriti ). Dazu bedarf es einer absichtslosen, wertfreien Betrachtung des physischen und geistigen Verhaltens von Moment zu Moment. Mit achtsamer Aufmerksamkeit betrachtete er einfach nur seinen Körper – seine Positionen und Bewegungen, seine einzelnen Teile, seine Empfindungen und seine Unbeständigkeit; er betrachtete seine Gefühle und emotionalen Prozesse sowie die Art und Weise, wie seine Sinne, Wahrnehmungen und Gedanken mit der äußeren Welt verbunden sind.
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