folgt das Glück (sukha) dir nach, unfehlbar wie dein Schatten.
Die Herausforderung der zweiten Edlen Wahrheit besteht darin, klar zu erkennen, dass unser Dukkha sich nicht wirklich von der Nahrung unterscheidet, die seine Ursache bildet. Wir selbst müssen begreifen – und nicht nur intellektuell verstehen –, dass Freiheit möglich ist, wenn wir einfach nur damit aufhören, die Nahrung zu uns zu nehmen, die die Ursache von Dukkha bildet. Sobald wir Dukkha deutlich erkennen und den Weg, der aus ihm herausführt, wirklich verstehen, entwickeln wir den starken Wunsch, seine Ursachen loszulassen. Wenn wir ganz deutlich begreifen, dass ein bestimmtes Denkmuster, ein Verhalten oder dass gewisse Lebensmittel unser Dukkha verursachen, so wie wir wissen, dass es Schmerzen verursacht, wenn wir ein heißes Schüreisen anfassen, werden wir diese Denkmuster, Verhaltensweisen oder Lebensmittel auf der Stelle loslassen – mit so wenig Bedauern und Konflikt, wie wir sie empfinden würden, wenn wir das heiße Schüreisen fallen ließen.
Wenn unsere Handlungen von Aufmerksamkeit begleitet werden, sind sie befreiend und kreativ. Sobald wir unachtsam sind, verwickeln wir uns in unsere Konditionierungen und bekannten Verhaltensmuster. Es sind diese konditionierten Handlungsmuster, die uns an den Kreislauf von Dukkha binden. In der Praxis der Asanas können wir anfangen, unsere Muster zu erkennen. Wenn wir tiefer in eine Beuge gehen und die Körperempfindungen intensiver werden – einfach nur, weil sie verschieden von denen sind, die wir kennen –, bemerken wir vielleicht, wie wir unsere Muskeln anspannen, den Atem anhalten und unser Geist sich in Abneigung verengt. Oder wir fangen an zu sehen, wie schnell wir angenehme Empfindungen festhalten, wie wir wollen, dass sie andauern, und wie wir darum ringen, sie zurückzugewinnen, nachdem sie verschwunden sind. All diese konditionierten Verhaltensmuster sind Ursachen von Dukkha, und in unserer Praxis können wir lernen, sie loszulassen.
Die dritte Edle Wahrheit besagt, dass die Überwindung oder Beendigung von Dukkha tatsächlich möglich ist. Selbstverständlich hilft es uns nicht weiter, dies einfach nur zu glauben. Diese Wahrheit (oder jede der Vier Edlen Wahrheiten) nur als Glaubenssatz anzunehmen, wäre so, als würden wir denken, dass es ausreicht, die Medizin, die der Arzt uns gegeben hat, einfach nur ins Regal zu stellen, anstatt sie auch zu nehmen! Die Herausforderung der dritten Wahrheit besteht darin, dass wir die Befreiung verwirklichen.
Wenn wir anfangen, mit der dritten Edlen Wahrheit zu arbeiten, besteht unser erster Schritt darin, ein Verständnis davon zu entwickeln, dass die Beendigung oder Eindämmung von Dukkha – und damit Wohlergehen (Sukha) – möglich ist. Wir müssen in der Lage sein, Dukkha zu erkennen, wenn es sich zeigt und uns an den wertvollen Gaben zu erfreuen, über die wir bereits verfügen. Thich Nhat Hanh erinnert uns daran, dass die dritte Edle Wahrheit uns sagen will, dass es nicht genügt, zu leiden. Wir sollten unsere gegenwärtige Situation tief betrachten und die Gründe für unser Glück, die bereits da sind, erkennen und sie dann unterstützen.
Obwohl Buddha die Wahrheit von Dukkha als erste Edle Wahrheit lehrte, handelt seine zentrale Lehre, die in der dritten Edlen Wahrheit zu finden ist, davon, „glücklich in den Dingen zu verweilen, so wie sie sind“ (drishta dharma sukha viharin). Glück ist möglich. Wenn wir die Dinge berühren, die Freude und Frieden bringen, werden wir erkennen, dass einfach nur zu sitzen, zu gehen, den Abwasch zu machen, dass einfach nur zu atmen ein Wunder ist, über das wir uns freuen sollten. Damit will ich jedoch nicht sagen, dass wir vor den unangenehmen Erfahrungen davonlaufen und nur die angenehmen begrüßen sollten. Wir sollten Buddhas eigener Praxis nacheifern und unserem Dukkha direkt ins Auge sehen.
Das führt uns in die tiefere Praxis der dritten Edlen Wahrheit: Wir wehren uns nicht mehr gegen unser Dukkha, wenn wir ihm direkt begegnen. Wenn wir versuchen, es wegzudrängen, genügt bereits unser Widerstand, um es stärker werden zu lassen. Stattdessen betrachten wir unser Dukkha, nehmen es an und erkennen so, dass Leiden und Glück nicht zwei sind. Dann wird unsere Freude wahrhaftige Freude sein und nicht einfach nur ein konditioniertes Reagieren auf die sich permanent ändernden Umstände.
In unserer Praxis der Asanas erhalten wir einen Geschmack der Befreiung, indem wir Dukkha loslassen und uns mit der Freude verbinden, die einfach gegenwärtig ist: die Freude, die darin liegt, einfach am Leben zu sein und in diesem Moment zu atmen. Wir können wirkliche Freude erfahren, die entsteht, wenn wir schließlich loslassen und unser Dukkha annehmen, anstatt so viel Energie mit dem Versuch zu verschwenden, es zu unterdrücken, zu verleugnen oder vor ihm weglaufen zu wollen. Glücklich in den Dingen zu verweilen, so wie sie sind, bedeutet auch, uns unseren Ängsten, unserer Traurigkeit und unseren Beurteilungen zu öffnen, ohne Widerstand in ihnen zu sein und uns ihretwegen nicht zu quälen. Ohne die Aggression gegen uns selbst zu richten, öffnen wir uns der gelebten Erfahrung des gegenwärtigen Moments, denn letztendlich handelt es sich immer um eine Aggression, die wir gegen uns selbst richten, wenn wir uns gegen irgendeinen Aspekt irgendeines Moments zur Wehr setzen. Dies ist eine Praxis der vorbehaltlosen Annahme und Nicht-Abwehr.
Die vierte Edle Wahrheit ist die äußerst pragmatische und kreative Antwort auf unser Dukkha. Sobald wir erkennen, dass dieser Pfad für uns der richtige ist, werden wir ihn praktizieren. Sobald wir die Freude der Befreiung von Dukkha berühren, werden wir diese Freiheit und diese Freude pflegen und nähren. Wenn ich an meine Dharma-Praxis denke, stelle ich mir keinen Pianisten vor, der Tonleitern übt. Ich denke viel eher an den Arzt, der Medizin praktiziert, oder an den Anwalt, der sich mit dem Recht befasst. Ihre Praxis ist eine Berufung. In dieser Weise kann auch unsere Yoga-Dharma-Praxis unsere Berufung sein. Die ursprüngliche Bedeutung von Berufung lautet, „seinen Ruf, seine Stimme [in der Welt] erklingen zu lassen“. Was für eine wunderbare Art und Weise, unsere Praxis zu betrachten! Wenn wir uns dieser Praxis widmen, lassen wir unsere Stimme in der Welt erklingen; wir legen unsere Werte und Absichten bezüglich unserer Beziehung zum Leben selbst dar. Das ist damit gemeint, dass unsere Praxis unser Leben ist.
Wenn wir die Vier Edlen Wahrheiten betrachten, werden wir das erkennen, was Buddha in folgende Worte fasste:
Jeder, der Dukkha sieht, sieht das Entstehen von Dukkha, die Beendigung von Dukkha und den Pfad, der zur Beendigung von Dukkha führt. Jeder, der das Entstehen von Dukkha sieht, sieht Dukkha, die Beendigung von Dukkha und den Pfad. Jeder, der die Beendigung von Dukkha sieht, sieht Dukkha, das Entstehen von Dukkha und den Pfad. Jeder, der den Pfad, der zur Beendigung von Dukkha führt, sieht, sieht Dukkha, das Entstehen von Dukkha und die Beendigung von Dukkha.
Wenn wir nur tief genug in eine dieser Wahrheiten blicken, sehen wir die anderen drei. Wir brauchen Dukkha, um den Pfad zu erkennen. Wenn wir uns von Dukkha abwenden, wenden wir uns von dem Pfad ab, der uns aus Dukkha herausführt. In dem Moment, in dem wir verstehen, wie unser Dukkha entstanden ist, sagt Buddha, befinden wir uns bereits auf dem Pfad der Befreiung. Aufmerksamkeit und Befreiung sind eng miteinander verknüpft. Deshalb sagt man auch, dass der Pfad bereits vollendet ist, sobald der erste Schritt auf ihn gesetzt wurde. Wir tun dies, Schritt für Schritt, Moment für Moment, einen Atemzug nach dem anderen.
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