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Das grundlegend Gute entdecken
Ein Großteil des Chaos in der Welt rührt daher, dass die Menschen sich nicht leiden können. Weil sie sich selber gegenüber nie Wohlwollen oder Freundlichkeit entwickelt haben, finden sie in ihrem Seelenleben keine Harmonie und keinen Frieden, und dieses Disharmonische und Konfuse übertragen sie dann auch auf andere. Statt uns am Leben zu freuen, nehmen wir unsere Existenz oft als selbstverständlich hin oder finden sie deprimierend und mühsam. Manche drohen mit Selbstmord, weil sie das Gefühl haben, das Leben gibt ihnen nicht, was ihnen zusteht. Sie erpressen andere mit Selbstmorddrohungen und sagen, sie bringen sich um, wenn sich dies oder das nicht ändert. Sicher sollten wir unser Leben ernst nehmen, aber das bedeutet nicht, sich an den Rand des Wahnsinns zu treiben, indem man über seine Probleme klagt oder Hass auf die Welt schürt. Wir müssen persönlich Verantwortung dafür übernehmen, aus unserem Leben etwas zu machen.
Wenn man sich nicht bestraft oder verdammt, wenn man sich mehr entspannt und Körper und Geist zu schätzen beginnt, dann kommt man mit der elementaren Idee des grundlegend Guten in sich in Berührung. Es ist also enorm wichtig, dass man bereit ist, sich für sich selbst zu öffnen. Wer sich selbst gegenüber Sanftheit entwickelt, wird fähig, sowohl die eigenen Probleme als auch das eigene Potential genau wahrzunehmen. Man fühlt sich nicht gezwungen, Probleme zu ignorieren oder sein Potential aufzubauschen. Eine solche Sanftheit gegenüber sich selbst und ein solches Anerkennen seiner Selbst ist dringend notwendig. Sie liefern die Grundlage, auf der man sich und anderen helfen kann.
Wir Menschen besitzen in uns eine Grundlage, die es uns erlaubt, aus unserem Dasein etwas Wertvolles zu machen und es vorbehaltlos zu bejahen. Diese Grundlage steht uns jederzeit zur Verfügung. Wir haben einen Geist und einen Körper, an denen uns sehr viel liegt. Weil wir einen Geist und einen Körper haben, können wir diese Welt begreifen. Das Dasein ist wundervoll und kostbar. Wir wissen nicht, wie lange wir leben, also, warum machen wir nichts daraus, jetzt, wo wir leben? Bevor wir etwas daraus machen, warum freuen wir uns nicht erst einmal?
Aber wie entdecken wir diese Freude am Leben? Wunschdenken oder bloßes Darüber-Reden helfen uns nicht weiter. Die Disziplin, mit der man in der Shambhala-Tradition Freundlichkeit gegenüber sich selbst und Wertschätzung für die Welt entwickelt, ist die Meditation im Sitzen. Die Praxis der Meditation wurde von Buddha dem Erhabenen vor über zweieinhalbtausend Jahren gelehrt, und seitdem ist sie Bestandteil der Shambhala-Tradition. Sie beruht auf mündlicher Überlieferung: Seit der Zeit Buddhas ist diese Praxis von einem Menschen zum nächsten übermittelt worden. Dadurch ist sie lebendig geblieben, so dass sie, obwohl uralt, immer noch aktuell ist. In diesem Kapitel werden wir etwas ausführlicher über die Technik der Meditation sprechen, aber man sollte daran denken, dass man direkte, persönliche Anleitung braucht, wenn man diese Praxis voll verstehen will.
Mit Meditation meinen wir hier etwas sehr Elementares und Simples, das an keine bestimmte Kultur gebunden ist. Es geht um einen ganz elementaren Akt: Sich auf den Boden setzen, eine gute Haltung einnehmen und ein Gefühl für den eigenen Platz entwickeln, unseren Ort auf dieser Erde. Das ist das Mittel, mit dem wir uns selbst und das grundlegend Gute in uns wiederentdecken, das Mittel, mit dem wir uns auf die echte Wirklichkeit einstimmen, ohne irgendwelche Erwartungen oder vorgefasste Meinungen.
Das Wort „Meditation“ hat manchmal die Bedeutung „Nachdenken über ein Thema oder Objekt“: man „meditiert über dieses oder jenes Problem“. Indem wir über eine Frage oder ein Problem meditieren, können wir eine Lösung finden. Manchmal wird Meditation auch als Weg verstanden, eine höheren Bewusstseinszustand zu erreichen, indem man in eine Art Trance oder Versenkung eintritt. Hier geht es aber um eine völlig andere Art von Meditation: bedingungslose Meditation, bei der man kein Objekt oder Thema im Sinn hat. In der Shambhala-Tradition heißt Meditation einfach, seinen Daseinszustand so zu trainieren, dass Körper und Geist synchron laufen können. Durch die Praxis der Meditation können wir lernen, uns selbst und andere nicht zu täuschen, hundertprozentig authentisch und lebendig zu sein.
Unser Leben ist eine endlose Reise; es ist wie ein breiter Highway, der in die unendliche Ferne führt. Die Meditation liefert uns ein Fahrzeug, um auf dieser Straße zu fahren. Unsere Reise besteht aus permanenten Höhen und Tiefen, aus Hoffnungen und Ängsten, aber es ist eine gute Reise. Die Meditation ermöglicht es uns, die Beschaffenheit der Straße zu spüren, und nur darum geht es bei dieser Reise. Durch die Meditation beginnen wir zu entdecken, dass wir im Grunde niemandem und nichts Vorwürfe machen.
Die Praxis der Meditation beginnt damit, dass man sich hinsetzt. Man nimmt im Schneidersitz auf dem Boden Platz. Man bekommt ein Gefühl, dass das Leben, einfach weil man an Ort und Stelle präsent ist, akzeptabel, sogar wunderbar werden kann. Man erkennt, dass man fähig ist, wie ein König oder eine Königin auf dem Thron zu sitzen. Das Majestätische dieser Situation zeigt einem, welche Würde darin liegt, einfach nur still dazusitzen.
Eine aufrechte Haltung ist dabei enorm wichtig. Ein gerader Rücken ist nichts Künstliches, sondern für den menschlichen Körper ganz natürlich. Krumm dazusitzen ist nicht normal. Man kann nicht richtig atmen, wenn man krumm dasitzt, und es ist auch ein Zeichen dafür, dass man sich seinen Neurosen überlässt. Wenn man also aufrecht dasitzt, verkündet man vor sich und der Welt, dass man ein Krieger sein will, ein ganzer Mensch.
Um mit geradem Rücken dazusitzen, muss man nicht krampfhaft die Schultern hochziehen; die aufrechte Haltung kommt von ganz allein, indem man ganz einfach, aber mit einem gewissen Stolz auf dem Boden oder dem Meditationskissen sitzt. Weil der Rücken aufrecht ist, verspürt man nicht mehr die geringste Verlegenheit oder Beschämung, und deshalb senkt man auch nicht den Kopf. Man beugt sich vor nichts und niemandem. Aus diesem Grund wiederum werden die Schultern automatisch gerade, und man entwickelt ein starkes Gefühl für Kopf und Schultern. Dann kann man die Beine ganz natürlich im Schneidersitz ruhen lassen; die Knie müssen den Boden nicht berühren. Vollständig wird diese Körperhaltung, indem man die Hände ganz leicht, mit den Handflächen nach unten, auf die Oberschenkel legt. Das verstärkt das Gefühl, dass man seinen Platz voll und ganz einnimmt.
In dieser Haltung schaut man nicht wahllos umher. Man hat das Gefühl, dass man voll und ganz da ist; deshalb sind die Augen offen, aber der Blick ist leicht nach unten gerichtet, etwa zwei Meter vor einem auf den Boden. Dadurch wandert der Blick nicht hierhin und dorthin, sondern man verstärkt das Gefühl von Bestimmtheit und Abgeklärtheit. Man begegnet dieser königlichen Haltung bei manchen ägyptischen und südamerikanischen Skulpturen sowie bei orientalischen Statuen. Es ist eine universale Haltung, nicht auf irgendeine Kultur oder Epoche beschränkt.
Auch im Alltag sollten Sie sich Ihrer Körperhaltung bewusst sein, Kopf und Schultern spüren und wie Sie gehen und andere ansehen. Auch wenn Sie nicht meditieren, können Sie eine würdevolle Daseinshaltung wahren. Sie können Ihre Unsicherheit hinter sich lassen und stolz sein, Mensch zu sein. Solcher Stolz ist akzeptabel und gut.
Nachdem Sie also für die Meditation eine gute Haltung eingenommen haben, achten Sie auf Ihren Atem. Wenn Sie atmen, sind Sie voll und ganz da, richtig da. Sie gehen mit dem Ausatem hinaus, Ihr Atem löst sich auf, und dann kommt der Einatem von allein. Dann gehen Sie wieder hinaus. Es gibt also ein ständiges Mit-dem-Ausatem-Hinausgehen. Wenn Sie ausatmen, lösen Sie sich auf, zerfließen. Dann kommt der Einatem von allein; Sie müssen ihm nicht folgen. Sie sind einfach wieder bei Ihrer Haltung und bereit für den nächsten Ausatem. Hinausgehen, auflösen: ffffff; zurück zur Körperhaltung; und ffffff , und zurück zur Körperhaltung.
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