1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Nein, sogar sehr junge Kinder können beim Baden kooperieren oder ihre Eltern ungestört reden lassen, wenn sie sich sicher und verbunden fühlen. In solchen Fällen wird Ihr Kind wahrscheinlich von einer früheren Verletzung gequält.
Als Säugling und Kleinkind kann ein Kind seine verletzten Gefühle nicht vollständig abladen. Ungelöstes speichert es als emotionale Erinnerung. Die dort gespeicherten Verletzungen versucht es zu ignorieren und die meiste Zeit bleiben sie weggepackt. Doch können diese Gefühle auch unerwartet an die Oberfläche steigen. Sobald das Kind eine Situation erlebt, die dem früheren verletzenden Moment in irgendeiner Weise ähnelt, tauchen sie auf! Bilder, Geräusche und das Gefühl von damals überfluten die Psyche des Kindes erneut. Dann regieren die Emotionen. Ihr Kind kann eine Weile nicht denken und nimmt Ihre Hilfe nicht bewusst wahr.
Zum Beispiel entschloss sich eine mir bekannte alleinerziehende Mutter dazu, ihrer sechsjährigen Tochter dabei zu helfen, die Angst vor dem Schlafen im eigenen Bett zu überwinden. Dieses stand nur wenige Meter vom Bett der Mutter entfernt. Schon immer hatte sich die Tochter davor gefürchtet, in getrennten Betten zu schlafen. Nach ihrer Ankündigung saß die Mama nah bei ihrem Kind und hörte lange zu, während die Tochter schluchzte und sich an sie klammerte. Nachdem sich das Kind eine Stunde später noch immer nicht beruhigt hatte, schliefen die beiden wie gehabt in einem Bett. In der zweiten Nacht wurde aus dem Weinen Zappeln und Zittern. Irgendwann schrie das Mädchen: „Es tut weh! Es tut weh!“ Als die Mutter nachfragte, antwortete sie: „Der Bienenstich!“ In jenem Sommer war sie von einer Biene ins Bein gestochen worden, also schaute sich die Mutter diese Stelle an, aber ihre Tochter schlug angstvoll um sich und sagte: „Nicht da! Hier!“, und deutete aufgeregt auf ihren rechten Handrücken. Genau an dieser Stelle wurde sie wenige Stunden nach der Geburt sieben Mal von einer unerfahrenen Klinikassistentin gestochen, bis endlich erfolgreich eine verordnete Infusion gelegt war. Der Vorschlag, im eigenen Bett zu schlafen, hatte riesige Angst ausgelöst, die vielleicht von diesem traumatischen ersten Tag ihres Lebens herrührte. Die Mutter hörte weiter zu, hielt ihre Tochter beruhigend fest, bis sich der Schrecken gelegt hatte. Nach diesem Ausweinen und dem zuversichtlichen Zuhören der Mutter schlief das Mädchen schnell im eigenen Bett ein. Später gab es mit diesem Thema keine Probleme mehr.
Wenn Ihr Kind gerade nicht denken kann, müssen Sie zum Glück nicht genau wissen, wodurch ihr Kind getriggert wurde und aus welchem Grund. Sie müssen es nur wahrnehmen, ihrem Kind nah sein, falls nötig Grenzen setzen und zuhören. Wie das geht, werden Sie auf den folgenden Seiten lernen.
Verbinden Sie sich mit ihrem Kind
Sie können Ihrem Kind besonders wirkungsvoll Ihre Liebe zeigen, wenn es seine Gefühle ausdrückt. Tatsächlich sind emotionale Ausbrüche eine gute Gelegenheit, sich mit Ihrem Kind zu verbinden. Dabei gibt es für jeden eine Aufgabe.
• Ihre Aufgabe beginnt, sobald Sie bemerken, dass das Verhalten ihres Kindes entgleist. Gehen Sie zu ihm, um schädigendes Verhalten zu unterbinden, und hören Sie zu. Wenn Ihnen die Schwierigkeiten Ihres Kindes früh genug auffallen und Sie sich sofort einschalten, teilt ihm das mit: „Ich sehe dich“, und hält es von noch drastischeren Verhaltensweisen ab.
• Ihr Kind hat die Aufgabe, seine emotionale Erregung abzuladen,und es wird dies tun, sobald es Ihren fürsorglichen Blick bemerkt.
• Sie haben die Aufgabe, Ihr Kind zu beschützen und sich mit ihm zu verbinden,während die Gefühle heftiger werden. Vielleicht müssen Sie es davon abhalten, sich selbst oder Ihnen wehzutun, falls es um sich schlagen oder treten muss, um sich von aufgestauter Spannung zu befreien.
• Ihr Kind hat die Aufgabe, Ihnen all seinen Schmerz zu zeigen.Indessen nimmt es Ihr Angebot der heilenden Verbindung in sich auf.
Sie müssen Ihr Kind nicht kontrollieren, ihm nichts beibringen und auch keine Konsequenzen für sein Verhalten festlegen. Ihr Kind muss einfach diese bestimmte Emotion abladen können, damit es wieder klar denken kann. Bei der Verarbeitung hilft ihm Ihre unterstützende Nähe. Es benötigt Ihr Zuhören, damit es heilen und sich wieder erholen kann. Nachdem die in einem Gefühlswirrwarr eingeschlossene Emotion herausgeströmt ist, wird das Kind die Welt buchstäblich anders wahrnehmen. Es wird fähig, sich mit Ihnen zu verbinden, und kann wieder logisch denken. Und künftig wird es nicht mehr ganz so leicht getriggert werden.
Die Verwundung Ihres Kindes war heftig, und das wird es Ihnen zeigen!
Ihr Kind schleppt vermutlich schon einen ganzen Ballast an unverarbeitetem seelischem Verdruss mit sich herum. Wenn Sie ihm dann Ihre liebevolle Unterstützung schenken, sieht es vielleicht zuerst so aus, als ginge der Schuss nach hinten los. Denn Ihr Kind schlägt womöglich um sich, krümmt sich und schreit im Griff der Gefühle, die es aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Ihr Zuhören bringt jedoch Heilung. Bleiben Sie einfach unterstützend und beschützend bei ihm. Nachdem Sie Ihr Kind durch seinen Gefühlsausbruch begleitet haben, entspannt es sich vielleicht für ein letztes Aufschluchzen in Ihren Armen oder nimmt ein paar zittrige Atemzüge und wird einfach still. Es wird sich erleichtert fühlen. Falls es nicht einschläft, wird Ihr Kind vielleicht eine Weile über Sie und seine Umgebung nachsinnen. Wenn es gähnt, zu kichern anfängt oder um ein Glas Saft bittet, als hätten Sie die letzte halbe Stunde locker miteinander geplaudert, dann haben Sie beide Ihre Aufgaben erfüllt. Der Tag kann nur besser werden.
Zuhören ist einfach, aber nicht leicht
Inzwischen denken Sie vielleicht: „Vergiss es! Ich will bei einem solchen Anfall meines Kindes keinesfalls in der Nähe sein!“ Natürlich erfordert es eine große Portion Mut, Ihrem aufgebrachten Kind zum ersten Mal auf diese Weise zuzuhören. Ich würde hart arbeitenden Eltern nie etwas so Herausforderndes vorschlagen, wäre ich nicht von seiner Wirkung überzeugt. Wir haben gesehen, wie es bei zahlreichen Kindern aus allen Familientypen und unterschiedlichen Kulturkreisen funktioniert. Was den „Hand in Hand“-Ansatz so besonders macht, ist eine Strategie des Zuhörens für Sie ganz persönlich. Sie können sich mit anderen Eltern als Partner über Gegenseitiges einfühlsames Zuhören Unterstützung verschaffen. Auf diese Weise schaffen Sie einen Ort, an dem Ihre eigenen Gefühle gehört und respektiert werden. Dann werden Sie für das Gefühlsleben Ihres Kindes echtes Gespür entwickeln. Und es wird Ihnen helfen, Ihr Kind schließlich sogar gerne durch seine besonderen Gefühlsmomente hindurch zu geleiten.
Sobald Sie den Gefühlen Ihres Kindes wirklich zuhören, dürfen Sie die folgenden problematischen Methoden vergessen: Schimpfen, Strafpredigt, Forderungen, Bestrafung, Bestechung, die Stimme erheben, Drohungen, Konsequenzen, Sternchenlisten oder andere Belohnungen für erwünschtes Verhalten. Sie müssen Ihr Kind nicht einschüchtern. Sie werden nicht das Bedürfnis haben, all sein Treiben zu kontrollieren. Sie werden Grenzen setzen, ohne sich dabei wie ein Spielverderber zu erleben. Sie werden merken, wie segensreich sich sinnvolle Grenzen auf Ihr Kind auswirken, wenn es aus der Fassung geraten ist.
Wenn Sie sich mit Ihrem Kind über die Zuhörstrategien verbinden, dann wird in Ihre Familie Folgendes vermehrt einziehen: Lachen, Spaß, Kooperation, Vertrauen, Liebe, Kreativität und Herzlichkeit. Sie werden erleben, wie Ihr Kind seinem guten inneren Kern stärker vertrauen wird und auch Sie selbst mehr Vertrauen in Ihren eigenen gewinnen. Wir sind dafür geschaffen, miteinander verbunden in behaglicher Nähe zu leben.
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