Wenn man, wie ich, an unzähligen dieser Essen im Laufe von 26 Jahren teilgenommen hat, dann können Sie sich annähernd vorstellen, wie toll es ist, diese Geschichten immer und immer wieder zu hören. Faszinierend dabei ist, dass es kaum Menschen außer Rosa von Praunheim und mir an diesem Tisch gegeben hat, die irgendetwas von dem Erzählten laut bezweifelten. Alle saßen meist da, hörten zu und nickten an den entsprechenden Stellen.
So habe ich den Begriff „Club der todlangweiligen Ja-Sager“ geprägt.
Heftig zusammenreißen musste ich mich aber dann doch schon bei ihren immer wiederkehrenden Lieblingsgeschichten.
Ihre angeblich ein paar Tage in Paris andauernde Liebes- und Bettgeschichte mit Frank Sinatra beispielsweise, die sie auch gnadenlos in der Presse ausschlachtete.
Übrigens eine große Fähigkeit der Künneke, sich immer bei der Presse im Gespräch zu halten, sei es auch noch so aberwitzig. Ein weiteres Beispiel für ihr Geschick medienwirksam die Diva zu geben, war zweifellos die Verlobung mit Rosa von Praunheim, was beiden viel Presse brachte. Auch die Behauptung, sie habe 5463 Liebhaber in ihrem Leben gehabt –, man urteile selbst. Wann hätte sie denn dann all die Auftritte, Filme und anderen künstlerischen Tätigkeiten, wie zum Beispiel Malen, schaffen können? Lustig.
Und die Geschichte ihrer Tochter, die in den USA lebt, zu ihr keinen Kontakt habe, und die sie im zarten Alter von 15 Jahren in der Hocke, die wirklich schönste Umschreibung einer nie stattgefundenen Geburt, die ich jemals gehört habe, zur Welt gebracht haben will.
Ich habe oft darüber nachgedacht und ich glaube heute, dass Evelyn ihren Wunsch nach Liebe auch hiermit zu verarbeiten gesucht hat. Schließlich gab es keinerlei Verwandtschaft mehr um sie herum. Sie war als das Einzelkind berühmter Eltern ein wenig zu unerzogen, ja fast verzogen, weshalb sie sicher ihre tödlichste und für Freunde auch sehr anstrengende Waffe entwickelt haben mochte: ihre Wutausbrüche!
Spätestens als ich ihre Testamente las, wusste ich, dass da nie eine Tochter existiert hat, aber wer sollte da den ersten Stein werfen?
Ihre Sehnsucht nach Liebe hat nie aufgehört, bis in ihre letzten Tage hinein war sie in ihren Pianisten verliebt. Liebe kennt kein Alter … … und der Wunsch nach ihr ist wohl unsterblich.
Ich fing früh, schon 1975, an Songs zu schreiben und schrieb erste Texte für Evelyn. Nach mehreren Versuchen gefiel Evelyn mein Text „Schaufensterboy“ gut und sie ließ ihn vertonen. Zum ersten Mal saß ich in einer ihrer Vorstellungen im Kleinen Theater am Südwestkorso, geleitet von Sabine Fromm, und hörte, wie jemand einen Text von mir sang. Ein Schlüsselerlebnis.
Mama blieb zuhause und versuchte ihre Bilder, die sie nun zahlreich malte, an den Mann zu bringen, was nicht so recht gelingen wollte.
Und sie legte wieder Karten. Sie nannte das Lebensberatung. War aber nicht glücklich damit.
Daher stand sie plötzlich eines Tages im Herbst vor mir und verkündete:
„Wir machen eine Diskothek für Schwarze auf. Ich habe einen Geldgeber gefunden und auch das passende Lokal in der Martin-Luther-Straße. Wir nennen es La Mama.“
Ich kündigte glücklich bei meinem Dekorations-Chef und lud ihn zur Eröffnung ein. Sein Gesichtsausdruck, in etwa zwischen Alice im Wunderland und Rumpelstielzchen, war eine adäquate Entschädigung für all die Sticheleien der vergangenen Wochen. Herrlich.
Nun war ich Discjockey. Aha. In dem Lokal stand ganz hinten an der Tanzfläche ein schneeweißes Klavier. Dort thronte ich in angemessener Erhöhung und spielte die Soul-Hits jener Tage. Von Barry White bis Stevie Wonder war alles dabei und ich liebte diese Musik über alles. Mama schmiss die Bar mit Michel, den sie inzwischen geheiratet hatte, und an der Tür stand ein Zwei-Meter-Mann namens Willy aus Jamaika. Eine tolle Zeit. Mit viel sehr guter Soulmusik. Wenn etwas weniger los war, legte ich eine Scheibe von Hamilton Bohannon mit einem mehrere Minuten langem Klaviersolo im Opening auf und tat an meinem weißen Flügel – die Schallplattenspieler und das Mischpult waren darin so eingebaut, dass man es im Lokal nicht sehen konnte – so, als würde ich das selbst spielen. Ich reckte meinen Kopf in die Luft, verschloss die Augen und alles sah ziemlich echt aus, wie Mutter und verblüffte Gäste feststellten.
Nach einigen Monaten mussten wir wieder schließen. Natürlich.
Michel, der heißgeliebte Ehemann meiner Mutter, machte sich aus dem Staub nach Frankreich, natürlich nicht, ohne das letzte Geld vom Konto abzuheben.
Die Malerin aus dem Osten und ihr tapferer Sohn hatten nicht die geringste Ahnung von der Gastronomie und vom Überleben im Westen und mit einigen Schulden mehr am Hals hieß es nun wieder: Neuanfang.
Wir zogen ein zweites Mal zu Evelyn.
Ich wurde von Evelyn kurzerhand als ihr Sekretär eingestellt und schleppte fortan ihre Koffer, reiste mit ihr durch die verschiedensten TV-Sender, Schwulenclubs und Kleinkunstbühnen Deutschlands. Das war sehr lehrreich. Und auch ein bisschen anstrengend für einen blonden, schlanken, heterosexuellen jungen Mann wie mich. Bei Tisch zuhause sagte Evelyn bei Flirtversuchen ihrer diversen schwulen Freunde immer denselben Satz: „Vergiss es Schätzchen, Tommy ist durch und durch eine Hete!“
Das schützte mich ein wenig, aber es machte für viele die Sache auch noch spannender. Nicht einfach, aber da ich seit frühester Kindheit durch meine Mutter viele Schwule kannte, war das nicht wirklich ein Problem, oft auch durchaus heiter. Ich gewöhnte mir als Verteidigung an sie einfach nachzumachen, wenn sie mir gegenüber saßen, um sie völlig zu verwirren. Da fand ich mich grandios.
Ich taumelte zwischen meiner Traumwelt, in der ich bereits ein erfolgreicher Künstler war, und Wirklichkeit hin und her wie ein Blatt im Herbstwind. Als kleinen Einblick in meine ersten Tätigkeiten für Evelyn seien hier zwei kurze Beschreibungen angeführt.
Während ich begann für Evelyn Songs zu schreiben, wurde ich auch ihr Sekretär … Was nun genau dies bedeutete, war uns allen nicht ganz klar, aber es klang erst einmal nach etwas, oder? In dieser mir nun verliehenen Wichtigkeit packte ich meinen und teilweise auch ihre Koffer. Da die Wohnung sehr groß war, wurde ich in das sogenannte Balkonzimmer einquartiert. Ein sehr schöner Raum mit einem riesigen, Gott weiß wie altem Bett, das sicher schon so manches Erlebnis hatte über sich ergehen lassen müssen. An den Wänden hingen Plakate verschiedenster Auftritte von Evelyn und ein paar selbst gemalte Bilder der Künstlerin. Der Balkon gewährte einen herrlichen Blick auf die zahlreichen Bäume dieser Straße und auf den Platz, an dem sich das Kino „Kurbel“ befand. Ein wirklich sehr schönes Stück Berlin. Mit eben diesem Balkon verbindet mich ja ein ganz besonderes Erlebnis: Nach gelungener Flucht im Kofferraum eines Diplomatenautos von Ost- nach Westberlin stand ich hier auf jenem Austritt mit meiner Mutter Waluscha. Wir waren ziemlich am Ende, aber überglücklich. Meine Mutter schaute hinunter auf die parkenden Autos und ich sagte: „Guck mal Mama, überall nur Westautos hier in der Straße, es muss wohl Pfingsten sein …“ Tja, das waren noch Zeiten, als Deutschland West sich in Deutschland Ost mit allerlei Geschenken zu den Feiertagen sehen ließ …
Ich war einigermaßen aufgeregt, schließlich war ich bis dato noch nie geflogen, und Evelyn beruhigte mich auf ihre herrliche Weise. Sie sei im Krieg selbst Flugzeuge geflogen und im Notfall könne sie den Vogel auch sicher zur Erde bringen … naja. Das beruhigte mich nicht wirklich und so fuhr ich sehr angespannt zum Flughafen. Am Schalter zündete sich Evelyn eine HB-Zigarette an, was mir immer angenehm auffiel, kannte ich doch aus meiner heimlichen Westfernseh-Guckerei den Werbespot für diese Zigarettenmarke. „Man muss doch nicht gleich in die Luft gehen, mein Freund, greife erst mal zur HB …“, oder so ähnlich hieß es da. Wenn man mit Evelyn privat länger als einen Tag verkehrt hatte, dann wusste man, dass sie in der Tat die richtige Marke rauchte, denn sie pflegte in dieser Zeit sehr schnell in die Luft zu gehen. Was für ein Doppelsinn angesichts des Fliegens und so stehen wir also an der Abfertigung in Berlin Tegel, um eben ganz genau dies zu tun: In die Luft gehen! Die Dame hinter dem Schalter tauschte mit der Künneke einige Nettigkeiten aus, bis ich das Kommando von ihr hörte: „Tomas, die Koffer aufs Fließband!“ Ich bewege mich natürlich sofort dienstbeflissen und wuchte das Gepäck in die gewünschte Lage. „Und jetzt noch meine Boas!“ Treu ergeben folge ich auch diesem Wunsch und lege einen grünen Seesack auf das Transportband. Zufrieden mit ihren Anweisungen, die Zigarette lässig wie ein amerikanischer Filmstar im Mundwinkel hatte sie diesen zweiten Befehl ausgestoßen. Die nette, bisher um vorzüglichen Service bemühte Dame hinter dem Abfertigungstisch erhebt nun ihrerseits die Stimme und sagt in das vor ihr qualmende Gesicht: „Haben Sie denn eine Impfbescheinigung für die Tierchen?“ Evelyn, erstaunten Blickes, nun fast hilflos dreinschauend, fragt nach: „Was haben Sie gesagt?“ „Sie brauchen, auch bei Inlandsflügen, eine Impfbescheinigung, sonst dürfen Sie die Schlangen nicht mit sich führen!“ Nun entbrannte das, was ich in den folgenden Jahren mehrmals erleben durfte, mich aber nie wieder derart ernsthaft in seelische Verwirrungen bringen sollte. „Gott, sind Sie blöde, Schätzchen, das sind doch nur meine Boas! Die brauche ich für meine Bühnenshow! Sie wissen wohl nicht, wer ich bin, oder?“ Mein Verstand hatte das offensichtliche Missverständnis ja bereits verarbeitet, aber meine Gefühle waren noch nicht klargekommen mit der Situation, und so fühlte ich mich auserwählt, der netten Dame den Sachverhalt zu erklären. Ich schob mich mit meinem ausgezehrten Körperchen an der nicht unerheblichen Leibesfülle meiner Künstlerin vorbei ins Bild und begann: „Sehen Sie, die Boas …“ „Tomas! Das mache ich selbst, ich bin durchaus noch in der Lage, meine Belange selbst zu regeln!“ Damit war ich wieder in Reihe zwei, hinter mir raunte eine Anzahl flugwilliger Menschen etwas von „unerhört, typisch Künstler“ und Ähnlichem. Die Dame hatte sich inzwischen in voller Lebensgröße erhoben, was sich gegen Evelyn ausnahm wie der Versuch von G. G. Anderson Bernhard Brink gerade in die Augen blicken zu wollen, und wiederholte unerschütterlich ihre Anweisung: „Ohne eine Impfbescheinigung können Sie ihre Tiere nicht mitnehmen, und wenn Sie der Schah von Persien sind!“ Evelyn verlagerte ihre Stimme nunmehr ins Zickige und erwiderte: „Schätzchen, der Schah von Persien wüsste Dank seiner sicher ihren Horizont weit übersteigenden Intelligenz, dass es sich hierbei nicht um Tiere handelt, sondern …, ach was rede ich, Tomas, gib mir mal eine meiner Boas aus dem Seesack!“ Wieder tat ich wie mir befohlen und reichte ihr aus dem grünen Ding eine ihrer Bühnenboas. „Sehen Sie hier, Schätzchen“, flötete Evelyn nun so lieblich wie die Dumpfbacke aus der schrecklich netten Familie, während sie die wirklich schöne Federboa um ihren runden Körper schlang, „dies hier beispielsweise ist ‚Marlene‘, eine meiner liebsten Boas. Ich pflege mit ihr ‚Johnny, wenn du Geburtstag hast‘ zu singen; ist es in Deutschland inzwischen verboten damit zu reisen?“ Diese Vorstellung hatte sie halb zur Abfertigungsdame, aber eigentlich schon mehr zu den Leuten in der Schlange hinter uns gegeben (… den Leuten hinter uns in der ‚Schlange‘ machte jetzt wieder doppelt Sinn). Nun sank, in trüber Peinlichkeit gefangen, die Dame wieder auf ihren Arbeitsstuhl zurück und gab uns endlich die lang umkämpften Bordkarten. Im Flugzeug beobachtete ich Evelyn und tat ihr alles gleich, um bei meinem ersten Flug in derart prominenter und auffälliger Begleitung nicht als Erstlingsflieger enttarnt zu werden. Hierbei, wir flogen ja nur von Berlin nach Hamburg, lernte ich, dass Evelyn von großer, grandios überspielter Flugangst erfasst war. Sie kompensierte diese Nervosität mit drei Dingen: Lesen von Konsalik-Romanen, Kettenrauchen und mit der Stewardess streiten.
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