Oft wird behauptet, das Dao, das Symbol für das Nichts, sei eine neuere Erfindung der Mathematiker. Tatsächlich gab es dieses Konzept des Nichts schon immer, wenn auch auf informelle Weise. In einem Satz wurde es einfach durch eine Leerstelle dargestellt. Es handelt sich weder um ein Symbol noch um ein Konzept. Es stammt aus der reinen Metaphysik und kann nur durch Intuition erfasst werden, die alles umfasst, was zu seiner Definition dienen könnte. In der modernen Kosmologie befindet es sich vor der planckschen Mauer, der Grenze zwischen der physischen und der rein mathematischen Welt. Es befindet sich vor dem Beginn des Urknalls. Das Nichts heißt auch das Wu Ji , das »Nichtsein«. Kurz gesagt, vielleicht zu kurz, sie ist der Ursprung der Einheit. Die Einheit wird durch das Symbol des Tai Ji dargestellt, das wir alle kennen, das aber nur zu oft falsch interpretiert wird.
Wir befinden uns noch in der reinen Metaphysik. Dies ist das Prinzip, ab dem alles entstehen kann, aber auch die Bestätigung des Nichts, des Wu Ji. In der Urknalltheorie stellt die Einheit (die Singularität) eine außergewöhnliche Konzentration von Energie dar, unendlich klein, die dennoch der Ursprung des gesamten Universums sein sollte, der »10.000 Dinge«, des Alls. Wenn übrigens der Ausdruck »10.000« verwendet wird, dann soll dies darauf hinweisen, dass es sich um etwas Unzählbares handelt, wie beispielsweise die »10.000 Sandkörner« am Strand. Möchte man eine Parallele zum Menschen ziehen, wäre das in etwa die Eizelle, die von einem Spermium durchdrungen wird: Das Programm ist noch nicht gestartet. Alles liegt in der Zukunft.
Dann kommt die Zwei: die erste Explosion, die erste Zellteilung, das Erscheinen der Dualität Yin-Yang (siehe Kapitel 3). Lassen wir für den Moment die Drei noch beiseite, die Trilogie Himmel-Mensch-Erde, das San Bao, die »drei Schätze«. Und je weiter wir uns von der Einheit entfernen, desto mehr nimmt die Aussage von Lao Tseu Form an. Man gelangt sehr schnell zu den acht Trigrammen, den 64 Hexagrammen des Yi Jing , und schließlich zu der symbolischen Zahl »10.000«. Der Urknall folgt derselben Symbolik. Nach einer anfänglichen Explosion dehnt sich das Universum mit dem Erscheinen von »10.000 Galaxien« aus, die sich immer schneller und schneller von der Einheit entfernen.
Es ist wichtig, diese Grundkonzepte zu verstehen, weil wir uns gewissermaßen in der Phase der »Explosion des Yang« befinden. Wir haben die globale Sicht auf den Organismus verloren, die Einheit, die er bildet, in Symbiose mit seiner Umgebung. Je weiter unser Fortschritt geht, desto mehr verlieren wir uns in den »10.000 Details« und desto mehr unterteilt sich die Medizin in »10.000« Disziplinen. Und für das Thema, das uns hier interessiert, die TCM, gilt dasselbe. Wir verlieren uns angesichts einer unglaublichen Menge an Techniken, die Schritt für Schritt entstehen, und die sich irgendwann alle widersprechen.
Denken Sie daran, dass der Taoismus, eine der Tradition entstammende Denkströmung, die am Ursprung der TCM steht, eine rein metaphysische Basis ist, und nicht, wie man oft hört, eine Philosophie. Die Metaphysik ist einzigartig, wie alle Traditionen. Sie kann nicht hinterfragt werden, sondern wird verinnerlicht, während sich unsere Seele entwickelt. Es ist so und nicht anders. Sie lässt sich naturgemäß kaum in Worte fassen. Vielleicht durch Ideogramme. Diese Darstellungen sind notwendigerweise reduziert und in gewisser Weise nur »Segmente«, um nicht zu sagen Krümel reiner Metaphysik.
Die Metaphysik entwickelt sich aus dem, was man vielleicht als Intuition bezeichnen könnte, die »vertiefte Vision«. Wir werden sehen, dass Intuition und innere Wahrnehmung die wichtigste Rolle spielen, wenn ein Praktizierender bestimmte Techniken anwendet, wie beispielsweise die Akupressur oder die Akupunktur.
Aber mit der Explosion des Yang, der Multiplizität der »Egos«, dem schrittweisen Verlust der mündlichen Leere, die letztlich zum Vorherrschen der Anonymität führt, sind die »Philosophien« entstanden. Eine offenbar reduzierende Definition dieses Worts: anfänglich eine Metaphysik, der wir einen Hauch Sentimentalität hinzufügen, vielleicht sogar etwas mehr.
Der Unterschied zwischen Ideogramm und Schrift
Wenn Sie ein Wort lesen, fängt Ihr Gehirn an, die Buchstaben des Alphabets zu interpretieren. Befindet sich das Wort außerhalb eines bestimmten Kontexts oder ist es Ihnen unbekannt, wird es Ihnen nicht viel sagen. Ein Ideogramm dagegen ist ein Bild, ein intuitives Konzept. In unserer modernen Sprache könnten wir sagen, Schrift wird vor allem in unserer linken Hirnhälfte verarbeitet, der analytischen Hälfte, die zerlegt, aufbricht, herausarbeitet, auflistet. Im Gegensatz dazu aktiviert der Anblick eines Ideogramms eher unsere rechte Hirnhälfte, die Hälfte der Konzeptualisierung. Dort werden Ereignisse mit Abstand betrachtet und Informationen auf ganzheitliche Weise verarbeitet. Diese Hirnhälfte nimmt auf, aber zerlegt nicht. Ein Beispiel zeigt Abbildung 1.3: Das Ideogramm für Baum und Holz ist mu , mit Zweigen nach oben, Wurzeln nach unten und einem vertikalen Stamm. Die Wurzeln werden nach oben hin zu Zweigen. Und wissen Sie, welches Ideogramm ein Wäldchen darstellt? Lin . Und den Wald? Senlin . Wir lesen W.a.l.d. Das bedeutet nichts. Während mehrere Bäume sehr nachvollziehbar für einen ganzen Wald stehen.
Abbildung 1.3: Von links nach rechts die Schriftzeichen mu , lin und senlin
Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn wir von mythischen Personen sprechen, wie Shen Nong, dem »göttlichen Landmann«, oder Huang Di, dem »Gelben Kaiser«, bewegen wir uns in der Metaphysik ohne jedes Ego, wir sind in der Einheit. Shen Non hat als Person als solche keine Bedeutung. Tatsächlich handelt es sich sehr oft um eine Strömung des Denkens, um eine Gruppe von Personen, die eine Offenbarung erlebt haben und zur gleichen Zeit über dasselbe Thema sprachen. Man muss die folgende Tatsache verinnerlichen: Sobald eine Idee, eine Theorie, ein Postulat von einem Individuum aus Fleisch und Blut stammt und womöglich unter seinem Namen bekannt ist, dann handelt es sich um eine Philosophie. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass es nur eine Metaphysik gibt, aber ebenso viele Philosophen wie Menschen, die sich Fragen nach dem Sinn des Lebens stellen. Und wohin gelangt man, wenn man sich von der Einheit entfernt? Zu einer Vielfalt von Theorien, und wie oben bereits erwähnt, Techniken, die schließlich alle komplett widersprüchlich sind.
Die Multiplizität der Theorien
Betrachten wir beispielsweise die Theorie der Akupunktur. Im Nei Jing wird sie ganz einfach beschrieben ist. Vielleicht sogar zu einfach. Offenbar besteht die Möglichkeit, sie zu überarbeiten (siehe Kapitel 13). Es wird deutlich erklärt, dass man beispielsweise für eine Stärkung die Nadel langsam einführen muss. Dies muss geschehen, wenn der Patient ausatmet. Und das Herausziehen beim Einatmen muss schnell erfolgen. Es heißt auch, dass diese Punktur, unabhängig vom ausgewählten Punkt, senkrecht zur Hautebene erfolgen soll. Für eine Beruhigung gilt das Gegenteil: Das Einführen erfolgt schnell, das Herausziehen langsam, ebenfalls senkrecht zur Haut und im Atemrhythmus des Patienten.
Читать дальше