Aleksandra Konarzewska - Stanisław Brzozowski

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"Der Geschichtsmaterialismus zeigt uns die Probleme in ihrer wahren Bedeutung, das heißt als Aufgaben, die durch Handlungen zu lösen sind. Er ist das bewusste Erleben und Schaffen der Geschichte und Kultur. Der Geschichtsmaterialismus zeigt uns die Geschichte der Menschheit und deren Kultur als ihr eigenes selbst geschaffenes Werk und ihre Verantwortlichkeit."
Aus: Stanisław Brzozowski «Der Geschichtsmaterialismus als Kulturphilosophie»

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ibidemVerlag, Stuttgart

Inhalt

Danksagung Danksagung Die vorliegende Anthologie wäre ohne die Unterstützung des Ibidem-Verlags nicht entstanden. Spezieller Dank gilt Valerie Lange für die redaktionelle Hilfe und die aufgebrachte Geduld. Dem Suhrkamp-Verlag danken wir für die Bereitstellung der Texte Die Menschheit und das Volk und Ende der Legende oder Von der Not der passiven Wehleidigkeit. Eine ideologische Auseinandersetzung (hier: [Romantik und Moderne] ), welche für die Vervollständigung dieses Bandes unabdingbar sind. Julia Furmańczyk danken wir herzlich für die Korrektur und das Lektorat des Vorworts. Aleksandra Konarzewska und Alexander Karl Golec

Vorwort

Teil 1: Theoretische Schriften

Der Geschichtsmaterialismus als Kulturphilosophie. Ein philosophisches Programm

[Literatur und Revolution]

Die Menschheit und das Volk

[Romantik und Moderne]

Teil 2: Aus dem Roman „Flammen“

Katja [Phänomenologie des sexuellen Missbrauchs]

Spartakus und Simon der Säulenheilige [Literarisches Porträt von Sergei Netschajew]

Orcio [Kondition des modernen Menschen. Rechtfertigung von Gewalt]

Leichen [Diskussion zwischen Wladimir S. Solowjow und Konstantin P. Pobedonoszew]

Appendices

Abbildungsverzeichnis

Editorische Notiz

Danksagung

Die vorliegende Anthologie wäre ohne die Unterstützung des Ibidem-Verlags nicht entstanden. Spezieller Dank gilt Valerie Lange für die redaktionelle Hilfe und die aufgebrachte Geduld. Dem Suhrkamp-Verlag danken wir für die Bereitstellung der Texte Die Menschheit und das Volk und Ende der Legende oder Von der Not der passiven Wehleidigkeit. Eine ideologische Auseinandersetzung (hier: [Romantik und Moderne] ), welche für die Vervollständigung dieses Bandes unabdingbar sind. Julia Furmańczyk danken wir herzlich für die Korrektur und das Lektorat des Vorworts.

Aleksandra Konarzewska und Alexander Karl Golec

Vorwort

Aleksandra Konarzewska

„Immer ist etwas da, das dem Menschen den Menschen stiehlt.“

Stanisław Brzozowski – Marxismus als Philosophie der Kultur und Entfremdung

Obgleich er nur das junge Alter von dreiunddreißig Jahren erreichte, ist es ihm gelungen ein Werk zu hinterlassen, das bis heute zu den wichtigsten Kulturphänomenen der Jahrhundertwende in Ost- und Mitteleuropa zählt. Stanisław Leopold Leon Brzozowski (1878–1911) war ein polnischer Kulturphilosoph, revisionistischer Marxist, Literaturkritiker, Dichter und Romancier und zählte zu den ersten, die – wie später Antonio Gramsci und György Lukács – den Marxismus in erster Linie als eine Kulturphilosophie ansahen.

Das Werk Brzozowskis wird oft als ein „revisionistischer“ oder sogar „häretischer“ Marxismus rezipiert. 1Wie viele der zeitgenössischen Denker:innen (u. a. Henri Bergson) entwarf auch Brzozowski eine Philosophie der Handlungspraxis, die eine strikte Trennung von ‚Leben‘, ‚Literatur‘ und ‚Philosophie‘ ablehnte, behielt dabei jedoch eine konsequent materialistische Perspektive bei. Das ‚Leben‘ wird in seinen Werken als ein Gegenstand der philosophischen Reflexion betrachtet, die ‚Ideen‘ sollten unterdessen weniger durchdacht, als vielmehr physisch ‚durchlebt‘ werden. Anders als bei den meisten marxistischen und sozialistischen Denker:innen seiner Zeit standen die Kultur (und nicht die ökonomischen Prozesse) und das Individuum (anstelle des Kollektivs) im Zentrum von Brzozowskis Interesse. Ähnlich wie für spätere marxistische Revisionist:innen aus Ost- und Mitteleuropa (Karel Kosík, Ágnes Heller, die Mitglieder der Warschauer Schule der Ideengeschichte) bedeutete der Marxismus für Brzozowski nicht die Suche nach Lösungen, sondern das Aufwerfen neuer Fragestellungen, die er auf Grundlage seiner Lektüre von Klassikern der sozialistischen Philosophie, beispielsweise Friedrich Engels (die längere Abhandlung Anty-Engels gilt als eine der geistvollsten Schriften Brzozowskis), entwickelte. 2Wogegen er lebenslang plädierte, war die Reduktion des Marxismus auf einen Automatismus, der bei Analysen von Kultur- und Sozialphänomenen einem Satz fester Axiome folgt und zu Unrecht verspricht, Geschichte und Ökonomie begreifen zu können, ohne sie gründlich studieren zu müssen. Brzozowski fasste den dialektischen und historischen Materialismus hingegen differenzierter auf, d.h. ohne einen Verzicht auf Ironie und Paradoxa, die die Praxis (‚das Leben‘) mit sich bringt. Dank einer solchen unorthodoxen Denkart ist in Brzozowskis Werken eine Perspektive zu finden, die den heutigen, an eine intersektionale Verknüpfung von Klassen-, Rassen/Ethnien- und Genderfragen gewöhnten Leser:innen besonders nah sein kann. Sie durchzieht vor allem literarische Werke Brzozowskis, in denen die strukturelle Diskriminierung ganzer ethnischer, nationaler und religiöser Gruppen (Juden, Unierte, Ukrainer) sowie sexuelle Gewalt und Ausbeutung thematisiert werden. Die Darstellung erfolgt ohne eine Romantisierung der Unterdrückten, die die sentimentale Prosa jener Zeit oft auszeichnete, und unter Berücksichtigung der intersektionalen Dynamik sozialer Ungleichheiten, die für das multikulturelle Ost- und Mitteleuropa der Jahrhundertwende charakteristisch war.

Gleichzeitig wurde der Marxismus in Brzozowskis Augen zu einer Philosophie der modernen Entfremdung, deren Spuren in verschiedensten Kulturströmungen zu erkennen sind, inklusive des religiösen Glaubens. Eine besondere Rolle spielte der römische Katholizismus: Brzozowski war von dem katholischen Modernismus und dem Werk John Henry Newmans fasziniert, dessen An Essay in Aid of a Grammar of Assent (1870) er ins Polnische übersetzte. Der Katholizismus verdiente laut Brzozowski eine besondere Aufmerksamkeit in der Kulturanalyse, aufgrund seiner Fähigkeit die wichtigsten Denkströmungen jener Zeit kreativ, aber ohne Integritätsverlust, aufnehmen und weiterentwickeln zu können. Auch die religiöse Spiritualität an sich, so Brzozowski, sei eine Tatsache und gehöre in verschiedensten Formen zur Sphäre menschlicher Erfahrungen; sie zu ignorieren, würde die Vernachlässigung eines wesentlichen Teils der Praxis (‚des Lebens‘) bedeuten. So gesehen steht Brzozowskis Religionsphilosophie dem gegenwärtigen, postsäkularen Marxismus (Slavoj Žižek, Terry Eagleton) sehr nahe; die provokative Feststellung von Žižek, dass das Erbe des Christentums „viel zu kostbar [ist], um es irgendwelchen fundamentalistischen Freaks zu überlassen“, 3könnte auch seine Maxime gewesen sein.

Das Leben von Brzozowski war nicht nur kurz, sondern auch dramatisch. Er wurde in eine verarmte Adelsfamilie in Maziarnia (damals: Russisches Kaiserreich) hineingeboren. Während seines Studiums in Warschau kam er mit polnischen Sozialisten in Kontakt und setzte sich als freier Journalist für fortschrittliche Ideen ein; zudem war er als Autor und Übersetzer tätig (er sprach Russisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch). Aufgrund seiner Erkrankung an Tuberkulose musste er mit seiner Familie nach Südeuropa emigrieren (dort lernte er u. a. Maxim Gorki und Anatoli Lunatscharski kennen). Als Brzozowski im Ausland lebte, wurde er Opfer einer politischen Intrige: 1908 wurde ihm öffentlich seitens der Presse vorgeworfen, ein Agent der ochrana (des Geheimdienstes im zaristischen Russland) zu sein. Obwohl diese Anschuldigung nie vollends bestätigt wurde, ruinierte sie den Ruf des Schriftstellers und beschleunigte seine Krankheitsentwicklung; Brzozowski starb nur drei Jahre später, in großer Armut, in Florenz.

Das Werk dieses unorthodoxen Marxisten fasziniert bis heute Schriftsteller:innen, Denker:innen und Aktivist:innen von allen Seiten des politischen Spektrums. 4Dies illustriert insbesondere die Rezeption seiner Werke in der Zwischenkriegszeit, als sich auf Brzozowski gleichermaßen links- wie rechtsorientierte Autor:innen (u. a. überzeugte Zionist:innen) 5beriefen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Etablierung des sowjetischen Kommunismus in Ost- und Mitteleuropa war Brzozowskis Name verpönt, 6und zwar nicht nur unter überzeugten Stalinisten: Noch im Jahr 1976 schrieb der Ex-Marxist Leszek Kołakowski über problematische „biologisch[e] Metaphern“ in Brzozowskis Werk, „die zwar keinen eindeutigen Inhalt hatten, aber mit der Zeit besonders verdächtig wurden, als radikale nationalistische Bewegungen, die man mit einer gewissen Berechtigung als faschistisch bezeichnen kann, in der Darstellung nationaler Werte gern auf die biologische Phraseologie zurückzugreifen begannen“. 7Erst in den 1960er Jahren, als eine Folge des ‚Tauwetters‘ im Ostblock, wurde Brzozowski in Polen neuentdeckt, insbesondere von Literaturkritiker:innen (eine wesentliche Rolle spielte hierbei das Buch des zukünftigen Nobelpreisträgers Czesław Miłosz). 8Im Jahr 2005 wurde die Stanisław-Brzozowski-Gesellschaft (

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