Zornig sprang Shira auf. "Ihr vergreift Euch im Ton, Maziroc!", sagte sie scharf. "Es wäre besser, wenn Ihr Eure Zunge hütet. Vergesst nicht, dass Ihr als Bittsteller zu uns gekommen seid."
"Aber als Bittsteller nicht für mich, sondern für all die, deren Leben jetzt bedroht ist", erwiderte Maziroc ebenso scharf. "Ich entschuldige mich, wenn meine Worte und mein Tonfall Euch ungebührlich erscheinen mögen, aber ungewöhnliche Situationen erfordern auch ungewöhnliche Reaktionen. Ich kann nicht um wohlfeile Formulierungen ringen und Verständnis für Bedenken heucheln, wie Ihr sie wegen eines uralten Zwists hegt, an dessen Ursprung sich niemand mehr erinnern kann, wenn Zorn und Bitterkeit in mir kochen, weil es um das Leben Millionen unschuldiger Kinder, Frauen und Männer geht."
"Ihr ..." setzte Shira erneut an, beugte sich im Stehen vor und stützte ihre Hände auf den Tisch, während sie Maziroc zornig anfunkelte, doch Garwin, der König der Jäger und Sammler, der zusammen mit Borrus Älteste und vermutlich auch Weiseste in der Runde, machte rasch eine beschwichtigende Geste.
"Lass ihn", sagte er. "Er hat recht. Wenn sich alles so verhält, wie er es schildert, dann kann ich seine Erregung gut verstehen. Hier geht es um einen beispiellosen bevorstehenden Völkermord. Darüber sollten wir uns ereifern, nicht über Fragen der Etikette, und wir sollten dabei auch nicht auf unseren Vorteil gegenüber den Elben oder anderen Völkern schielen."
Maziroc nickte ihm dankbar zu.
"Verzeiht mein Auftreten, aber irgendwie musste ich Eure Aufmerksamkeit wecken und an Eure Gefühle appellieren, um Euch aus Eurer Gleichgültigkeit zu erwecken. Ich hoffe, dass ich Euch damit nicht vor den Kopf gestoßen habe, aber wie der ehrenwerte Garwin gesagt hat, zählt das Leben all der bedrohten Menschen auch in meinen Augen mehr als die Etikette. Die Völker brauchen Eure Hilfe."
"Und wenn schon. Es sind nur Menschen", stieß Shira hervor, während sie sich wieder setzte. "Warum sollten wir Zwergenblut vergießen und Zwergenleben gefährden, nur um das von Menschen zu schützen?"
Bevor Maziroc auf ihre hochmütige Äußerung antworten konnte, meldete sich Farin rasch wieder zu Wort. "Was bringt Euch überhaupt zu der Gewissheit, dass diese Damonen es auf die Ausrottung aller Bewohner Arcanas abgesehen haben?", wollte sie wissen. "Selbst wenn sie nur vorhätten, die verschiedenen Länder zu erobern und die Menschen zu versklaven, wäre das schon schrecklich genug, aber in der Geschichte dieser Welt hat es schon viele Despoten und Kriegsherren gegeben, die dies aus Gier oder Machthunger versucht haben. Welchen Sinn jedoch sollte ein Völkermord haben, wie Ihr ihn heraufbeschwört?"
"Ihr habt die Damonen nicht gesehen, sonst würdet Ihr nicht fragen", erwiderte Maziroc leise. "Bislang haben sie jeden niedergemetzelt, auf den sie gestoßen sind, gleichgültig, ob Menschen, Elben oder Barbaren, ob Frauen, Männer, Kinder oder Greise. Die Damonen sind keine vernunftbegabten Wesen, an die wir Maßstäbe anlegen können, wie sie für uns gelten. Es sind Ungeheuer, deren einziger Lebenszweck das Morden zu sein scheint. Und über die Wesen, die hinter ihnen stehen und sie befehligen, oder deren Absichten wissen wir bislang gar nichts."
Wieder sprachen die Zwergenkönige einige Minuten lang so leise miteinander, dass Maziroc ihre Worte nicht verstehen konnte, doch diesmal schien es zwischen ihnen Meinungsverschiedenheiten zu geben, wie er ihrem Mienenspiel entnehmen konnte. Er wertete es als ein gutes Zeichen. Offenbar war es ihm gelungen, zumindest Garwin auf seine Seite zu bringen, vielleicht auch noch einen oder zwei der anderen.
Shira hingegen würde sicherlich gegen seine Bitte stimmen. Die religiöse Führung der Zwerge hatte schon immer für eine stärkere Abkapselung gegenüber anderen Völkern gestritten, weil es angeblich dem Willen der Götter entsprach, die Reinheit ihrer Lehre nicht durch den Kontakt mit minderwertigen Lebensformen verwässern zu lassen. Darüber hinaus verachtete Shira auch persönlich andere Völker, vor allem die Menschen.
"Wir wollen Eure Aussagen nicht anzweifeln", richtete Borrus schließlich wieder das Wort an ihn. "Aber Ihr werdet sicherlich verstehen, dass wir keine Entscheidung, die auch für die Zukunft unseres Volkes so bedeutsam sein kann, fällen werden, ohne uns vorher selbst ein umfassendes Bild von der Lage zu machen. Deshalb werden wir morgen früh bei Sonnenaufgang einige unserer Drachenreiter ausschicken. Wenn sie zurückgekehrt sind und uns Bericht erstattet haben, werden wir uns hier wieder zusammenfinden und erneut über unsere weiteren Schritte beraten. Bis dahin bitten wir Euch, unser Gast hier in Ravenhorst zu sein."
Maziroc nickte. Ihm brannte die Zeit unter den Nägeln, und lieber hätte er sofort eine Entscheidung bekommen, doch er sah ein, dass er unter den gegebenen Umständen nicht mehr erreichen konnte.
"Ich nehme Euer Angebot dankbar an", sagte er.
Das Erste, was Miranya bei ihrem Aufwachen wahrnahm, waren die schlimmsten Kopfschmerzen, die sie je in ihrem Leben verspürt hatte. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und was geschehen war, nicht einmal, wer sie war. Der Schmerz lähmte ihr gesamtes Denken, und als sie eine unvorsichtige leichte Bewegung machte, beschränkte er sich nicht länger nur auf ihren Kopf, sondern breitete sich wie flüssiges Feuer in ihrem ganzen Körper aus, als ob jeder einzelne Nerv in Flammen stünde. Sie konnte nicht einmal schreien. Nur ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen, und sie wünschte sich, wieder in die sanfte, schmerzfreie Schwärze der Bewusstlosigkeit zurücksinken zu können, doch auch das gelang ihr nicht.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Schmerz so weit nachließ, dass sich zumindest ihre Gedanken wieder ein wenig klärten. Irgendetwas stimmte nicht, soviel wurde ihr bewusst. Ihr Erwachen unter diesen Umständen war nicht normal; etwas musste vorher passiert sein. Langsam, wie ein dünnes Rinnsal, kehrten einige ihrer Erinnerungen zurück. Vage erinnerte sie sich an die Reise, die sie mit Maziroc und einigen anderen Begleitern unternommen hatte, und an die Zwerge, die sich ihnen nach dem Überfall durch die Hornmänner als Begleitschutz angeschlossen hatten. Das Bild einer Stadt tauchte vor ihr auf: Therion. Zusammen mit ihren Begleitern war sie in einem Gasthaus eingekehrt und dann ... dann ...
Nichts.
Es war, als würden ihre gedanklichen Fühler, mit denen sie nach ihrer Erinnerung zu tasten versuchte, immer wieder gegen eine Wand prallen und daran abgleiten, so sehr sie sich auch bemühte. Verbittert wollte sie den Kopf schütteln, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig daran, dass dies vermutlich sofort eine neue Welle von Schmerz auslösen würde, und verzichtete darauf.
Nach einiger Zeit waren die Qualen auf ein Maß herabgesunken, dass Miranya es wagte, ihre Augen zu öffnen. Die Lider waren verklebt und lösten sich nur widerwillig. Vorsichtig blinzelte sie durch winzige Schlitze hindurch, darauf gefasst, dass jeder Lichtstrahl den schrecklichen Schmerz neu anfachen würde, doch sie wurde angenehm enttäuscht. Es war fast dunkel um sie herum; lediglich durch einen Spalt in einer nicht ganz geschlossenen Tür fiel ein schwacher Lichtschein aus dem Nebenzimmer herein, der jedoch nicht einmal reichte, sie Einzelheiten ihrer Umgebung erkennen zu lassen.
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