Wer lebte denn mitten im Wald? Papa würde das jetzt wissen. Aber der saß zu Hause vor dem Fernseher und trank sein Gute-Nacht-Bier alleine.
Sabine stellte den Motor ab und zog den Zündschlüssel. Sie stieg aus und sagte Richtung Rückbank: »Sie bleiben im Auto, und kommen Sie nicht auf dumme Ideen. Ich könnte sauer werden.« Der letzte Satz gefiel ihr, und er schien Eindruck zu machen. Olaf und Karsten kauerten stumm nebeneinander.
Mit gezogener Waffe in der einen Hand und der Taschenlampe in der anderen ging Sabine auf das Haus zu. Sie erwartete nicht wirklich, Leichen zu finden, und dachte darüber nach, wie sie es den beiden Vögeln in ihrem Streifenwagen heimzahlen würde. Sie wollte aber auch nicht die Dumme sein, wenn sich hinter dieser verwitterten Tür, die sie nun langsam aufschob, doch ein Verbrechen abgespielt hatte.
Was sie wenige Sekunden später sah, ließ sie erschaudern. Die Wilderer hatten nicht gelogen. Dort lagen zwei Menschen inmitten von Blut, viel Blut. Sie drehte um und rannte zum Auto.
»Na, wir haben recht gehabt, oder?«, fragte einer der Männer, doch Sabine antwortete nicht. Über Funk machte sie in der Leitstelle Meldung über ihren Fund. Dann näherte sie sich mit vorsichtigen Schritten wieder dem Haus, die Waffe im Anschlag.
Sahas war so schnell gelaufen, wie er konnte, nachdem er den fürchterlichen Knall gehört hatte. Das war sicher ein Schuss gewesen. Von einem Gewehr. Udgam hatte auch ein Gewehr, mit dem er manchmal Tiere im Wald schoss. Sahas durfte nicht mit, wenn er das tat. Zu Hause kochte Kala die Tiere dann. Sahas mochte dieses Essen nicht besonders gerne, aber er musste es essen, sonst wurde Udgam böse und sperrte Sahas ein.
Sahas war immer hinter dem Hund hergelaufen. Der Hund war schnell und der Junge konnte ihm in seinen Hausschuhen kaum folgen. Irgendwann hielt der Hund an und legte sich auf den Boden. Sahas tat es ihm nach. Es war nun kälter geworden und Sahas fror. Wie gerne wäre er jetzt in seinem Bett. Der Wald machte Geräusche, ganz leise, ungewohnte Geräusche. Manchmal huschte etwas über das trockene Laub. Irgendein Tier lief einen Baumstamm hoch. Es war alles fremd für Sahas, aber er hatte keine Angst. Sein Name bedeutete Mut, hatte Kamini ihm erklärt. Und darum war er besonders mutig.
Doch Sahas kannte auch Angst. Im dunklen Keller, wenn er mal wieder allein oder mit den anderen eingesperrt war. Er hatte Angst vor Udgams Wut und vor seinen Schlägen. Natürlich fürchtete er sich vor Om, der aber auch ihr aller Beschützer war. Und Sahas hatte Angst vor Fremden. Nie, nie im Leben würde er mit einem Fremden sprechen oder gar mit einem mitgehen, das hatten Kamini und Garima ihm eingeschärft. Er hatte auch Angst vor der Welt hinter dem Wald. Aber hier im Wald hatte er keine Angst.
Der Hund sah ihn an. Und plötzlich kam Sahas der Gedanke, dass dieses graue Tier dort gar kein Hund war. Es war ein Wolf. Kamini hatte ihm Geschichten mit Wölfen vorgelesen und ihm erklärt, dass Wölfe nicht wie Hunde bei Menschen leben, sondern alleine oder mit anderen Wölfen zusammen im Wald. Die Wölfe auf den Bildern zu den Geschichten waren schwarz und groß, und in den Geschichten waren sie böse. Sie fraßen Menschen. In einer Geschichte hatte ein Wolf eine ganze Frau verschluckt, ohne zu kauen. Hinterher, als der Wolf aufgeschnitten wurde, lebte die Frau noch. Sahas hielt das für Blödsinn und Kamini sagte, dass das ja nur eine Geschichte sei und da müsse nicht alles stimmen.
Aber vielleicht stimmte es ja, dass Wölfe Menschen fressen. Jetzt bekam Sahas doch schreckliche Angst. Würde dieser Wolf ihn fressen? Oder waren graue Wölfe nicht so gefährlich wie schwarze?
»Hey, Wolf«, rief er leise, »bist du mein Freund?« Der Wolf spitzte die Ohren und sah Sahas neugierig an. Er stand auf und es machte den Eindruck, als wolle er näher kommen, aber dann legte er sich wieder hin.
»Hab keine Angst, Wolf. Ich bin Sahas, ich bin dein Freund.« Doch der Wolf schien ihn nicht zu verstehen. Er legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Der Wolf ist müde, dachte Sahas, genau wie ich. Der Boden war weich, bald schlief der Junge ein, wobei er noch ein paarmal zuckte. Später, im Schlaf, vielleicht nur im Traum, spürte Sahas etwas Warmes, Weiches neben sich. Und in seiner Hand warme, feuchte Luft.
Sahas erwachte von schrecklichem Lärm. Sirenen, wie er sie aus den Filmen kannte, die Om ihm manchmal mitbrachte, tönten in der Ferne. War das ein Traum? Er hob den Kopf. Nein. Die Geräusche waren echt. Und auch der Wolf, der dicht neben ihm lag, war echt. Der Wolf hatte verstanden, dass Sahas sein Freund war. Auch der Wolf hatte den Kopf angehoben. Nun hörten sie direkt über sich einen fürchterlichen Lärm. Irgendetwas dröhnte am Himmel über den Bäumen. Lichtstreifen, wie von einer riesigen Taschenlampe, leuchteten von oben durch die Bäume auf den Boden. Der Lärm entfernte sich, die Lichtstreifen mit ihm.
Der Wolf sprang auf und lief los. Sahas folgte ihm.
Sabine hatte in der Leitstelle in Lüneburg richtig Druck gemacht und die Kollegen hatten verstanden, dass es nicht um Viehdiebstahl ging. Sie würden sich beeilen, aber sicher eine Dreiviertelstunde brauchen. Da Sabine in dieser Einöde keinen Handyempfang hatte, bat sie die Kollegen in der Leitstelle, zu versuchen, Jakob Metzger zu erreichen und auch den Anwärter Attila Yilmaz, der ein paar Wochen in Gartow Dienst schob und für diese Zeit in Gorleben bei einer Bekannten Metzgers ein Zimmer bewohnte. Sabine versprach sich allerdings nicht viel von diesem Hilferuf, denn Metzger lag sicher wie üblich im Koma und würde sein Telefon nicht hören und Attila hatte kein Auto.
Natürlich wäre es vernünftiger gewesen, im Streifenwagen auf das Einsatzkommando zu warten, aber Vernunft gehörte nicht unbedingt zu Sabines Kernkompetenzen. Musste sie damit rechnen, dass der Mörder, so es sich überhaupt um Mord handelte, noch im Haus war? Ziemlich unwahrscheinlich. Sollte er da gewesen sein, als die beiden Deppen hier vor einer Stunde herumliefen, so war er inzwischen sicher über alle Berge. Sie hatte Fragen an Koslowski und Hohmann. Hatte ein Fahrzeug auf dem Hof gestanden, das jetzt nicht mehr da war? Hatte sich in der Zwischenzeit sonst etwas verändert? War ein Schuppen geschlossen, der vorher offen war? Solche Sachen. Auch hätte sie fragen können, ob die Haustür vielleicht weiter oder weniger weit geöffnet gewesen war, als die beiden sich aus dem Staub gemacht hatten. Aber dafür hätte sie zurück zum Auto gemusst. Nun stand sie schon in dem dunklen Hausflur und bewegte sich langsam vorwärts.
Der Flur sah aus wie die meisten Flure in diesen Häusern. Lang, dunkel. Holzvertäfelung. Alte Möbel, alte Fliesen. Was fehlte, waren die üblichen Jagdtrophäen, Landschaftsbilder und frommen, gestickten Sprüche. Stattdessen hingen hier bunte Bilder mit indischen Motiven. Ein großes, gerahmtes Bild von einem alten Mann mit weißem Rauschebart. War das nicht dieser Guru, über den Sabine neulich mal eine Doku gesehen hatte?
Direkt neben den Leichen blieb Sabine stehen. Es waren nicht die ersten Toten, die sie sah, was nicht bedeutete, dass sie nicht schockiert war. Ein bärtiger Mann um die 40. Er hatte den Mund halb geöffnet. Sabine leuchtete ihm ins Gesicht. Der Mundraum war völlig zerstört, blutig. Ihr fiel eine Pistole in seiner rechten Hand auf, die halb von seinem Körper verdeckt wurde. Der hat sich selbst in den Mund geschossen, dachte Sabine. Und die Frau neben ihm, nur mit einem Schlafanzug bekleidet, hatte er vermutlich vorher getötet. In ihrem Hinterkopf klaffte ein blutverklebtes Einschussloch. Sie lag merkwürdig verrenkt auf dem Bauch, sodass Sabine ihr Gesicht nicht sehen und ihr Alter nicht schätzen konnte. Natürlich durfte sie die Leiche nicht umdrehen. Die Mordkommission aus Lüneburg würde sie sonst lynchen. Die Frau hatte brünette Haare, von grauen Strähnen durchzogen.
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