Dieses Buch soll einen Beitrag leisten, die kulturell geprägten Bilder von Frauen allgemein wie auch von lesbischen Frauen zu entlarven. Gleichzeitig fördert die Sichtbarkeit lesbischer Seniorinnen das Bewusstsein für die Existenz von älteren Frauen im nicht heterosexuellen Kontext. Ihre Geschichten dehnen die starren patriarchalen Machtstrukturen aus und stellen sie in Frage. Dadurch ergibt sich ein erweitertes Verständnis für die Vielfalt eines Frauenlebens. Mit den Erzählungen werden zudem die mehr oder weniger subtilen Formen von erlebter Diskriminierung, welche die Frauen ihr Leben lang aushalten mussten, sichtbar wie auch die gesellschaftlichen Zwänge, denen sie ausgesetzt waren, und die Strategien, die sie angewendet haben, um ihr Leben zu gestalten. Zusätzlich wird eine neue Sicht auf Alterungsprozesse und alternative Bedürfnisse im Alter gewonnen. Das Buch soll aber ebenso jungen wie alten Menschen Mut machen, einen selbstbestimmten Weg zu gehen und den eigenen Träumen und Wünschen zu folgen.
Und ganz zum Schluss noch: In diesem Band fehlen die Geschichten von älteren frauenliebenden Frauen, die heute abhängig und pflegebedürftig sind, ein isoliertes oder verstecktes Leben führen und aus Angst vor Diskriminierung ein Leben lang nicht über ihre Liebe oder ihr Begehren sprechen konnten. Das hinterlässt eine grosse Lücke. In der Schweiz leben mehr als 500 000 Frauen, die über siebzig Jahre alt sind, davon viele frauenliebende Frauen. Das sind eine Menge Geschichten, die noch nicht erzählt wurden … Wer mir ihre Geschichte erzählen möchte, melde sich bei der Autorin unter corinnerufli@bluewin.ch oder Corinne Rufli, Stichwort: Wie verzaubert, Verlag Hier und Jetzt, Langacker 16, Postfach, 5405 Baden (ab Juli 2015: Kronengasse 20, 5400 Baden). Jede Anfrage wird mit grösster Diskretion behandelt.
Corinne Rufli
«Meine Liebe zu Karin machte mich frei.»
Eva Schweizer, 74, Aargau
Eva Schweizer (1941) ist geschieden, Mutter zweier Adoptivkinder und sechsfache Grossmutter. Sie war als Lehrerin, Heilpädagogin und in der Gewaltprävention tätig. Seit 35 Jahren lebt sie glücklich mit Karin zusammen. Nur mühsam hat Eva sich von ihrem engen pietistischen Herkunftsmilieu emanzipiert und zu ihrer Identität gefunden.
Hans verliebte sich sofort in mich. Ich hatte keine vergleichbaren Gefühle für ihn. Wir lernten uns in einem Blaukreuz-Ferienlager kennen. Ich war 17 und er 15. Hans stammt aus einer Chrischona-Heilsarmee-Familie und war felsenfest davon überzeugt, dass wir von Gott für einander bestimmt seien. Er bearbeitete mich so lange, bis auch ich daran glaubte. Schliesslich hatte ich bereits als Zwölfjährige das Versprechen vor Gott abgelegt, in die Mission zu gehen, und er wollte in die Indianermission.
Hans war offensichtlich davon ausgegangen, dass ich vor ihm noch keinen Jungen geküsst hatte. Als er später erfuhr, dass das nicht stimmte, fiel er aus allen Wolken. Mein Eingeständnis stürzte ihn in eine Glaubenskrise. Er haderte mit seinem Gott, der meine Reinheit für ihn nicht bewahrt hatte, und trat mit rigoroser Konsequenz aus der Bibelschule aus. Er ging ins Ausland, um neue Perspektiven für sich zu entwickeln. Später begann er als kritischer Student ein Theologiestudium.
Nach seinem Auslandaufenthalt fühlte ich mich von Hans bedrängt und gequält durch ständige unterschwellige Vorwürfe. Es gab in unserer Beziehung keine Leichtigkeit und keine Fröhlichkeit mehr. Ich wartete vergeblich darauf, dass Gott, wenn er uns schon für einander bestimmt hatte, gefälligst auch noch die Liebe für unsere Beziehung nachliefere. Ich redete mir hartnäckig ein, dass es doch noch gut kommen werde. Als ich dennoch an einen Punkt kam, an dem ich die Beziehung beenden wollte, überredete mich Hans zum Bleiben. Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich meine Trennungsabsicht meinen Eltern beibringen könnte. Sie schätzten Hans sehr, besonders in seiner Eigenschaft als angehender Pfarrer.
Zwei Jahre dauerte unsere Beziehung bis zur Verlobung, vier Jahre bis zur Hochzeit. Ich konnte mich aus dieser Schlinge nicht mehr herauswinden. Ich entwickelte Hautallergien und Heuschnupfen. Ich kaute Fingernägel bis aufs Blut. Am Hochzeitstag musste ich einen Kamillendampf machen, weil ich mit völlig verquollenen Augen erwacht war. Ich schluchzte am Hochzeitsfest, als meine Brüder ihre Schnitzelbank sangen. Sehenden Auges ging ich in die Falle, und diese schnappte nun zu. Ich hatte in meiner Naivität «Ja» gesagt. Ich war 25, als ich heiratete.
Der eheliche Vollzug fand statt – von meiner Seite widerwillig und unter Schmerzen. Erst Jahre später erinnerte ich mich wieder, dass meine Mutter manchmal gesagt hatte: «Sie muss dann noch früh genug.» Jetzt verstand ich die Bedeutung dieser Worte: Sie muss früh genug eine Frau werden, einen Mann glücklich machen, Kinder gebären …
Hans und mich verband zwar eine gute Kameradschaft und wir teilten ähnliche Wertvorstellungen, doch das genügte mir nicht. Er war eher der Intellektuelle, der stundenlang mit seinen Theologenfreunden über Gott und über Weltverbesserungsideen reden konnte, während ich als Lehrerin täglich konkret mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert war. Ich absolvierte in dieser Zeit berufsbegleitend ein Heilpädagogikstudium und unterrichtete an einer anspruchsvollen Sonderschule.
Als ich 31 Jahre alt war, erfüllte sich Hans seinen Traum, der zu meinem Albtraum werden sollte: Er wollte nur mit mir zusammen den Atlantik in seinem Segelboot überqueren und anschliessend in Südamerika eine Stelle als Pfarrer antreten. Bereits auf der Überfahrt zu den Kanarischen Inseln wurde ich schrecklich seekrank, und die Reise wurde für mich unerträglich. Mitten auf dem Atlantik fiel dann auch noch die Selbststeuerungsanlage unserer Yacht aus. Eine Unterlagsscheibe fehlte, und mein Ehering wurde zu ihrem Ersatz. So mussten wir wenigstens nicht pausenlos Wache halten. Gewaltige Stürme fegten später durch die Karibik. Ich litt unter Todesängsten und dachte, das letzte Stündchen habe uns geschlagen. Ich wollte nur noch sterben. Wir kamen beide völlig geschwächt in Kolumbien an. Im Hafen erwartete uns ein Telegramm mit der Nachricht, dass mein Lieblingsbruder sich umgebracht hatte. Mit seinem Tod ging ein Stück meiner Welt unter.
Ich machte mir schwere Vorwürfe, dass ich meinen Bruder vor diesem Schritt nicht hatte bewahren können. Er hatte seine wahren Gefühle hinter einer heiteren Fassade verborgen, eine Tarnkappe getragen, so wie ich sie trug, so wie andere Mitglieder der Familie dies weiterhin taten. Das hatte in der Folge furchtbare Konsequenzen: Mein Grossvater beging Selbstmord, auch der Bruder meiner Mutter und einer ihrer Cousins brachten sich um. Die Umstände dieser Todesfälle wurden aber unter dem Deckel gehalten, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
In Kolumbien fand Hans eine Stelle als Vikar in einer Deutschschweizer Gemeinde. Mein Wunsch war es, Kinder zu haben, obwohl wir keine eigenen bekommen konnten. Ich hoffte, dass sie meinem Leben wieder Sinn geben würden. Ich musste mich entscheiden, entweder an der Deutschen Schule zu unterrichten oder mich um eine Adoption zu bemühen. Ich wählte die Adoption.
1973, sechs Tage nach ihrer Geburt konnte ich Susanne aus dem Kinderheim abholen. Im ersten Jahr war ich eine überglückliche Babymutter. Ich hatte eine unsägliche Freude an dem Mädchen und war selig. Noch ahnte ich nicht, wie anstrengend dieses kleine Persönchen zuweilen sein konnte. Susanne entwickelte sich zu einem äusserst temperamentvollen Kind.
Nach zwei Jahren kehrten wir zurück in die Schweiz, und Hans trat eine Stelle als Pfarrer im Aargau an. Wenig später adoptierten wir Patrick, der ebenfalls aus Kolumbien stammte. Susanne war furchtbar eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder, und ich kam oft an meine Grenzen. Ich arbeitete in dieser Zeit nicht mehr als Lehrerin. Trotz der Kinder wurde ich immer unzufriedener mit meiner Familiensituation.
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