DIE DREI SPRACHEN
Ein Märchen der Brüder Grimm
Ein Graf war unglücklich über seinen einzigen Sohn. Er hielt ihn für dumm und schickte ihn in die Fremde zu einem Meister in die Lehre. Dort lernte der Sohn, was die Hunde bellen. Bei seiner Rückkehr fragte sein Vater: »Ist das alles?«, und schickte ihn zu einem anderen Meister. Bei ihm lernte der Sohn, was Vögel singen. Bei seiner Rückkehr fragte ihn sein Vater: »Ist das alles?«, und schickte ihn ein drittes Mal fort. Beim dritten Meister lernte der Sohn, was Frösche quaken. Als er es seinem Vater berichtete, geriet der in höchsten Zorn und befahl seinen Dienern: »Tötet ihn!« Die führten den Sohn hinaus, hatten aber Mitleid und ließen ihn gehen. Dann erjagten sie ein Reh. Mit dessen Blut täuschten sie den Grafen.
Der Grafensohn bat in einer Burg um Unterkunft. Der Burgherr gewährte sie ihm im alten Turm und warnte ihn vor den wilden Hunden dort: »Die bellen immerzu! An bestimmten Tagen fordern sie von uns ein Menschenopfer.« Alle Leute um die Burg herum bedauerten den Grafensohn. Der fürchtete sich nicht, sondern bat nur um Futter für die Hunde. Das gaben sie ihm und führten ihn zum Turm. Als er eintrat, bellte kein Hund. Sie wedelten mit ihren Schwänzen, fraßen, was er dabeihatte, und krümmten ihm kein Haar. Am anderen Morgen berichtete er dem Burgherrn: »Die Hunde erzählten mir ihre Geschichte. Sie wurden verwünscht und müssen einen Schatz hüten, solange er nicht entdeckt ist. Sie verrieten mir auch, was zu tun ist.« Da freuten sich alle. Der Burgherr versprach ihm seine Tochter, wenn er den Schatz fände. Er fand ihn. Da verschwanden die Hunde, und das Land war die Plage los. Die Tochter wurde ihm angetraut. Beide lebten glücklich.
Eine Zeit später brach der junge Graf auf nach Rom. Da geriet er in einen Sumpf, in dem Frösche quakten. Er hörte ihnen zu, wurde traurig, verriet seiner Frau aber nichts. Endlich erreichten sie Rom, wo gerade der Papst gestorben war. Die Kardinäle hatten sich soeben geeinigt: Neuer Papst könne nur der werden, an dem Gott ein Wunderzeichen wirkt. Ebenda betrat der Grafensohn die Kirche. Plötzlich flogen zwei weiße Tauben auf seine Schultern. Die Kardinäle erkannten darin ein Zeichen Gottes. Er selbst war unsicher, ob er würdig sei für dieses Amt. Doch die Tauben redeten ihm gut zu. Da er sagte: »Ja!« Damit erfüllte sich, was ihm die Frösche gesagt, ihn dadurch aber traurig gemacht hatten. Er sang die Messe und wusste kein Wort davon. Aber die Tauben flüsterten ihm alles ins Ohr. 4
Impuls
Zu diesem Märchen fallen Ihnen vielleicht folgende Fragen ein:
Was hat es mit diesen drei Sprachen auf sich?
Worauf will uns die Symbolsprache dieses Märchens hinweisen? Worin könnte die Heilkraft dieses Märchens bestehen? Kann ich mich mit einer Figur des Märchens identifizieren?
Wollen wir dieses Märchen interpretieren, können wir die gängige tiefenpsychologische Deutung nach C. G. Jung zugrunde legen:
• Dreimal muss der Sohn bei den verschiedenen Meistern in die Fremde ziehen und in die Lehre gehen. Damit beginnt eine dreistufige Wandlung. Sie vollzieht sich in ihm, während er drei Sprachen erlernt: die der bellenden Hunde, die der singenden Vögel und die der quakenden Frösche.
• Mithilfe der drei Meister wird der Sohn stufenweise vertraut mit drei Elementen: Erde, Wasser, Luft. Sie stehen für Vitalität, Unbewusstes und Geist. Er lernt die Kräfte der Natur kennen und schätzen, auch ihre Heilkraft. Er lernt, auf ihre Stimme zu hören, sie zu verstehen und ihnen zu trauen.
• Vor den bellenden Hunden zeigt er keine Angst; denn er beherrscht ihre Sprache und erfährt ihr Geheimnis: das Versteck des Goldschatzes. Damit ermutigt uns das Märchen: Lerne die bellenden Hunde in dir (Gefühle, Leidenschaften, Krankheitssymptome) verstehen. Nähere dich ihnen freundlich und nähre sie, dann wirst du erfahren, welcher Schatz dahinter verborgen ist: deine Verwandlung, dein Lebenssinn und -ziel.
• Mithilfe der Froschsprache kommt der Grafensohn mit Wasser, der Kraft des Unwägbaren und bislang Unbewussten, in Berührung. Sie eröffnet ihm jene neue Zukunft, die ihn in Rom erwartet. Noch schreckt er davor zurück: Kann er sich darauf verlassen? Welcher Verzicht verbirgt sich darin?
• Dank der Vogelsprache wird er vertraut mit den Geisteskräften. Sie geben ihm Zuversicht, Sicherheit und Inspiration in den entscheidenden Momenten auf völlig unbekanntem Terrain.
• Die dem Vater völlig unnütz und unsinnig erscheinenden Tiersprachen erweisen sich am Ende als Gewinn. Sie sind Wegweiser zum individuellen Lebenssinn. Sie führen den Grafensohn über viele Mutproben und Gefahren zu seiner eigenen Bestimmung und Vollendung. 5
Märchen überzeugen durch ihre Symbolsprache. Darin verdichten sich menschliche Erfahrungen über Jahrhunderte hinweg. Heilsame Wandlungsprozesse werden verschlüsselt und doch erkennbar dargestellt. Sie laden dazu ein, sich selbst in dieser Geschichte zu spiegeln und zu erkennen. Die Symbolsprache der Märchen ist ein wohltuendes
Heilmittel für unser Innen- und Seelenleben. Das Märchen Die drei Sprachen macht trotz des grausamen Anfangs Hoffnung. Sie können sich mit dem Grafensohn identifizieren und hoffen, dass Sie aus Fehlstarts, Bedrohungen und Verwundungen heil herauskommen und Ihr Lebensziel erreichen. Die Heilkraft liegt in der Ermutigung, auf das Naturgegebene zu vertrauen, auf die innere Stimme zu hören und den Glauben an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten nicht zu verlieren. Der innere Heiler bricht sich Bahn, spürt seine Helferinnen und Helfer auf und aktiviert sie. Verwandlung und Heilung gelingen.
Entstehung, Entwicklung und Funktion von Symbolen
Dies alles haben Entwicklungspsychologen und Psychoanalytiker für uns erforscht. 6So hat Donald W. Winnicott herausgefunden, dass dieser Entwicklungsprozess bereits ab dem sechsten Monat beginnt, sobald der Säugling unbewusst spürt, dass er nicht mehr – wie vor der Geburt – eins mit seiner Mutter, sondern ein Individuum ist. Diese Entdeckung ist die Initialzündung für das Symbolisieren, eine besondere Fähigkeit des Menschen, seine erste Kommunikationsschiene. Um die Ängste zu beherrschen, die sich durch die vom Kind erspürte Trennung regen, greift der Säugling und später das Kleinkind zu sogenannten Übergangsobjekten wie Daumen, Tuchzipfel oder Teddy. Sie vertreten die abwesende Mutter und helfen dem Säugling, seine Einsamkeit zu überwinden und das Gefühl der Geborgenheit nicht ganz zu verlieren. Welch heilsame Wirkung!
In den ersten Lebensjahren bis ins frühe Jugendalter hinein baut das Kind eine fast unzertrennlich-innige Beziehung zu seinen Übergangsobjekten wie seinem Kuscheltier auf – durch Liebkosungen, Lallen und einzelne Wörter. Der Teddybär wird von ihm gedrückt und geherzt. Übergangsobjekte bilden über Abgründe der Angst hinweg eine Brücke in die ersehnte Geborgenheit, sind Trostspender und Heilmittel schlechthin. Das Kind erlernt durch bloßes Erleben den Prozess der Symbolbildung und erfährt zugleich intuitiv deren Wirkung. Ganz wichtig ist das Lernen durch Nachahmen. Das Kind übernimmt die in der Familie gebräuchlichen Rituale wie den Austausch von Zärtlichkeiten oder Essgewohnheiten und erprobt sie spielerisch mit seinem Kuscheltier oder real mit (Groß-)Eltern und Geschwistern. So lernen Kinder auch, mit Konflikten umzugehen und sie selbst oder mit fremder Hilfe zu lösen.
Bis in die ersten Schuljahre hinein durchschaut das Kind den spezifischen Charakter von Ritualen und Symbolen nicht. Es kann nicht erkennen, dass diese über sich hinausweisen in eine andere Wirklichkeit. Deshalb kann es nicht verstehen, was Erwachsene mit übertragener Bedeutung oder Doppelsinn meinen. Wie Till Eulenspiegel bei seinen lustigen Streichen beharrt es auf dem wortwörtlichen Sinn.
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