Thomas Holtbernd
Verantwortliche Gelassenheit
Thomas Holtbernd
Verantwortliche Gelassenheit
Freiheit
in Zeiten
der Krise
Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2021
© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen
Umschlagbild: Shutterstock / Musicman
Innengestaltung: Crossmediabureau, https://xmediabureau.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN 978-3-429-05604-9
ISBN 978-3-429-05156-3 (PDF)
ISBN 978-3-429-06532-4 (ePub)
Die Corona-Pandemie hat die Weltgesellschaft radikaler als frühere Erschütterungen wie die Finanz- oder Flüchtlingskrise verunsichert. Trotz des als äußerst bedrohlich empfundenen Geschehens wurden übliche und religiös geprägte Deutungen kaum in die öffentliche Diskussion gebracht. Die Rede von einer göttlichen Strafe oder einem Werk des Teufels scheint unangemessen und auch unverständlich geworden zu sein. Die modernen Gesellschaften haben diese Narrative durch sachlich notwendige und wissenschaftlich begründete Handlungskonzepte ersetzt. Doch auch eine säkularisierte und säkulare Gesellschaft muss Beschreibungen finden, die den Bedrohungen, dem Unbekannten oder Unbewussten einen Namen geben und verhindern können, dass unbewältigte Konflikte in Krisen ausagiert werden und weitere Schäden verursachen.
Die staatlicherseits als Reaktion auf das Infektionsgeschehen vorgenommenen Maßnahmen griffen massiv in das Leben der Bürger ein, wurden jedoch vom größten Teil der Bevölkerung mit einer überraschend großen Gelassenheit hingenommen. Die Freiheit des Einzelnen stand in Konkurrenz zum Allgemeinwohl, und die modernen Gesellschaften standen vor der Frage, was sie als Freiheit verstehen und wie sie damit umgehen wollen. Ist es Freiheit, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger scheinbar freiwillig in weiten Teilen den staatlichen Zwangsmaßnahmen fügen? Ist eine Sorgekultur entstanden, die eine ständige Unruhe und das reaktive Einrichten von Schutzmaßnahmen etabliert hat? Oder sucht das Subjekt in den Konstrukten der Wirklichkeit und des Sozialen nach den Möglichkeiten, die ihm als Freiheit zu etwas bleiben? Und ist Gelassenheit sowohl gegenüber den Folgen der Erkrankung als auch den Einschränkungen der Freiheit in solchen Krisenzeiten verantwortungslos? Dürfen radikale Maßnahmen ergriffen werden, bevor das Handeln ethisch begründet und die Konsequenzen realistisch abgeschätzt werden können? Und kann es Sonderrechte für einzelne Gruppen der Gesellschaft wie die Kirchen geben?
Es geht um alles, um Leben und Tod. Gelassenheit kann daher nicht passiv als ein Effekt von Entschleunigung verstanden werden. Sie ist nur dann verantwortlich, wenn sie aktiv eingeübt ist und in Krisen als eine wichtige Ressource zur Verfügung steht. Die Existenz betreffenden Fragen können nicht in übergroßer Angst vor dem Sterben oder enger Begrenzung durch Schutzmaßnahmen angegangen werden. Es ist ein Zurücktreten aus der Dramatik der Geschehnisse notwendig. Ein solcher Schritt ist lebensbejahend, weil er eine resignative Routine oder ein scheinbar chaotisches Handeln durchbricht und so nicht nur auf das nackte Leben verweist, sondern auf ein Überleben als Gestaltung des Lebens in besonders bedrohlichen Situationen. Freiheit kann so als „Verfügbarkeit für das Unwahrscheinliche“ 1zu einer lebensmotivierenden Kraft werden.
Mit dem vorliegenden Buch soll das Wagstück einer ungesicherten Analyse eingegangen werden. Ausgangspunkt ist das Phänomen der Corona-Krise, das als eine Inszenierung verstanden wird, bei dem das Virus die Idee des Stückes vorgegeben hat und für die Regie unterschiedliche gesellschaftliche Trends und Dynamiken verantwortlich sind. Das Stück spielt vor allem auf der Bühne von Medizin und Pflege. Es scheint dabei ähnlich zuzugehen wie beim Schauspiel „Romeo und Julia“ von William Shakespeare: ein irres Verwirrspiel, Missverständnisse, Falschmeldungen, der Selbstmord der Protagonisten und die zu späte Einsicht der Eltern über ihre Mitschuld. Vielleicht ist die Inszenierung der Corona-Krise so aufschlussreich und anschaulich, dass wir, das Publikum, am Ende der Vorstellung und wenn der Vorhang gefallen ist, ein bisschen mehr verstanden und ein Verständnis von Freiheit gefunden haben, das uns das Leben weitestgehend so gestalten lässt, wie wir uns die Frage „Wie will ich leben?“ beantwortet haben.
Thomas Holtbernd
Vorwort
1. Teil
Corona, das Ungeplante und die Krise
Die Krise als Inszenierung
Die Krisen als Krise oder der Zustand Krisenmodus
Machtvakuum und die Leugnung von Gefahren
Der fehlende Anstoß zum ersten Schritt
Adressierungswirrwarr und Orientierungslosigkeit
Entscheidungen und die Tatsache der Endlichkeit
Die Verschiebung der Opposition und neue Glaubenswelten
Die Krise als wahrgenommenes Zeichen der Illusionslosigkeit
Treue, Vertrauen und die Sehnsucht nach menschlicher Wärme
Das Ende des Singularismus und die Bedeutung der Gemeinschaft
2. Teil
Haltung bewahren als Voraussetzung zur Freiheit
Die Lust am Stolpern
In der Krise einen Anfang wagen
Krisenkünste als Einübungen ins Leben
Die Kunst der heiteren Gelassenheit
Die Kunst des Umgangs mit der Dummheit
Die Kunst der Vornehmheit und Höflichkeit
Die Kunst des Zauderns
Die Kunst des Neinsagens
Die Kunst des Schweigens
Die Kunst des Alleinseins
Die Kunst des wilden Assoziierens
Schlussbemerkungen
Literatur
Anmerkungen
1. Teil
Corona, das Ungeplante und die Krise
Bisherige Epidemien und Pandemien betrafen vor allem Randgruppen oder Entwicklungsländer, Covid-19 trifft in die Mitte unserer Gesellschaft, und dies könnte erklären, warum die Bedrohung durch das Virus SARS-CoV-2 als so hoch eingeschätzt wurde und ungewohnt massive Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Die Übertragungsorte oder -wege sind typisch mittelschichtszentriert: Geschäftsreisen, Skiurlaub, Kreuzfahrten, also die Enklaven der Wohlhabenden. 2Covid-19 trifft die Gesellschaft in ihrer Verwundbarkeit, der gemeinschaftlichen Sorge um den Einzelnen, der Solidarität und Gerechtigkeit sowie der Gewähr eines aktuellen Schutzes und einer Planungssicherheit. Konkret ist die Gesellschaft durch Covid-19 in dem Bereich gefährdet, der durch die Fortschritte der Medizin fast unverwundbar erschien. Gesundheit war für den Einzelnen ganz im Sinne des Neoliberalismus zum Ort des Erfolgs oder Glücks durch eigene Anstrengungen und finanzielle Möglichkeiten geworden. Dass das körperliche Wohlbefinden nicht nur von den Leistungen und Investitionen des Einzelnen abhängt, stellte dieses Gesundheitsverständnis radikal in Frage. Rudolf Virchow schrieb bereits 1849, dass die Seuchen als eine große Störung des Massenlebens zu verstehen seien. 3Er kam folgerichtig zu der Forderung: „Soll die Medizin daher ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muß sie in das große politische und soziale Leben eingreifen …“ 4Es verwundert daher nicht, wenn vor allem Mediziner die politischen Maßnahmen während der Corona-Krise maßgeblich mitbestimmten. Die geforderten Therapiepläne zielen dabei auf eine Herdenimmunität ab, durch die die Störungen des Massenlebens und damit die Gefahr für den Einzelnen gebannt werden sollen. Man könnte dies als einen Paradigmenwechsel beschreiben: Nicht mehr der Einzelne ist für seine Gesundheit verantwortlich, sondern der Einzelne hat Sorge für die Gemeinschaft zu tragen und kann so seine Gesundheit erhalten.
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