Mit Vermutungen darüber, wie es nach der Krise weitergehen wird, werden solche blinden Flecke ausgeblendet. Ebola, Aids, Sars, die Finanzkrise und ähnliche Erschütterungen haben die Gesellschaft angekratzt, die Strukturen sind jedoch gleichgeblieben. Und insbesondere die Finanzkrise wie auch die Corona-Krise kennzeichnet ein starker Beharrungswillen. In den sprachlichen Formulierungen zeigt sich dies in dem Begriff „systemrelevant“. Banken, bestimmte Berufe, Betriebe und Geschäfte sollen gestützt werden, damit das System erhalten bleibt. Deutlicher kann das Festhalten-Wollen am Alten nicht gekennzeichnet werden, wobei das Alte mit technischem Fortschritt und Globalisierung irreführend übersetzt wird.
Es war vorauszusehen, dass sich ein Virus durch die Globalisierung, die Reisebewegungen, die internationalen Verbindungen der Unternehmen schnell und über die ganze Erde ausbreiten kann. Durch Covid-19 sind die hierdurch bedingten Gefahren deutlich geworden, und das löst Panik und Ängste aus. Also nicht die gegenwärtige Corona-Krise erschüttert die Menschen, sondern die Gewissheit, dass die Entwicklungen nun zu einem point of no return gelangt sind. Gleichzeitig ist die Argumentation, dass die Infektionsrate gesenkt werden muss, damit genug Intensivbetten zur Verfügung stehen, der Verweis auf einen Verteilungskampf, der mit den Flüchtlingsströmen schon begonnen hatte, doch noch nicht nah genug an der Alltagswirklichkeit der meisten Menschen war. Irgendwie ist den Menschen jedoch klar, dass sie sich durch ihren Egoismus in diesen Verteilungskämpfen schuldig gemacht haben. Dieses Schuldgefühl oder Wissen um die bereits schwelenden Verteilungskämpfe führt zu Übersprungshandlungen und es wird Klopapier gekauft, womit jedoch genau das wiederholt wird, was in den Verteilungskämpfen geschieht: Erst sorge ich für mich. Dass darüber eine Unzahl an Witzen, lustigen Filmchen usw. entstanden ist, ist letztlich eine andere Form der Abwehr. Indem die toilettenpapierkaufenden „Idioten“ verulkt werden, müssen die dahinterstehenden Ängste nicht ernst genommen werden.
Der Fortschritt, das unbegrenzte Wachstum ist als Ideal inakzeptabel geworden, viele Menschen ahnen, dass dieser Mechanismus einen Zusammenbruch zur Folge haben wird. Dies ist eine ungeheure Kränkung, weil die letzten Jahrzehnte, vor allem seit dem Aufkommen des Neoliberalismus, ad absurdum geführt werden. Dabei wird die Kränkung auf das Nichtkönnen bezogen und nicht auf die Handlungen und Einstellungen, die zu diesem Zustand geführt haben. Die Corona-Krise muss demnach so inszeniert werden, dass das politische und gesellschaftliche Geschehen auf das Meistern dieser Krise bezogen wird. Die Maßnahmen müssen als gelungen dargestellt, die Hoffnungen auf das Können bezogen werden, nämlich darauf, dass ein geeignetes Medikament und ein Impfstoff gefunden werden. Die exakten Wissenschaften werden zur Beratung herangezogen, und „fragende“ Wissenschaften werden an den Rand gedrängt oder dürfen sich zu Fragen äußern, die scheinbar zum Problem gehören, doch keine praktische Relevanz haben. Es wird versucht, das Ideal einer durch naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt begründeten Wohlstandsgesellschaft aufrechtzuerhalten, statt die Kränkungen durch die Begrenztheit dieses Ideals zu ertragen.
Begonnen hat die Krise mit einem Schuldgefühl. Es ging um den Schutz vor allem der Alten. Es sollte eine Generation geschützt werden, die den Krieg und die ersten Jahre des Wiederaufbaus meist nur als Kinder und dann die Wohlstandsjahre in der Blüte ihres Lebens verbracht hatten. Gleichzeitig ist es die Generation, die maßgeblich an den Schaltstellen von Politik, Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft sitzt oder die vergangenen Jahre maßgeblich mitbestimmt hat. Diese Generation hat vor allem optimistische Entwürfe für die Gestaltbarkeit der Gesellschaft entwickelt, den Individualismus und die Befreiung des Einzelnen aus allzu starken Bindungen angestrebt, 25was insbesondere bei den nach 1940 Geborenen festzumachen ist. Die Identität der zu schützenden Alten ist äußerst schwierig, sie gehören nicht oder gerade noch zu den 68-ern, die Jüngeren unter diesen Alten gehören zur Generation, die als Zaungäste 26bezeichnet werden. Beruflich weisen sie oft keine stringenten Biografien auf. Es war die erste Generation, die Gesamtschulen und Gesamthochschulen besuchen konnte. Die Arbeiterkinder hatten nun Zugang zur höheren Bildung, mussten jedoch erfahren, dass damit nicht gleichzeitig der Zugang in die gehobene Gesellschaft garantiert war. Es ist die Generation, die noch mit strengen Moralvorstellungen erzogen und sozialisiert worden war und die dann ihren Kindern kaum noch das vermitteln konnte, was ihre Eltern ihnen mitgegeben hatten. Brüche in der eigenen Lebensbiografie wie auch erfahrene Brüche in der Tradition kennzeichnen diese Generation. Auch kirchliche Sozialisationen brachen ab. Der rigide Umgang mit theologischen Abweichlern wie Küng, Boff und Drewermann wie umgekehrt auch die Modernisierung der Liturgie und Pastoral führten dazu, dass sich Enttäuschte zum Kirchenaustritt entschlossen oder Zuflucht bei sektenähnlichen Gruppierungen suchten. Es ist eine zutiefst gekränkte Generation, die viele Gewohnheiten, Überzeugungen und Ziele aufgeben oder sich eingestehen musste, dass ihr Aufbruch ins Leere gegangen war. Die Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft war fragwürdig geworden, die 68er wurden als Chiffre 27erkannt, viele Bewegungen wie die Antipsychiatrie, genossenschaftliche Betriebe, politisch orientierte Psychotherapien schienen sich in Wohlgefallen aufgelöst zu haben.
Gleichzeitig machte sich diese Generation schutzlos und glaubte an die Kraft des Diskurses und der Demokratie. An den Universitäten lernte sie, dass Kriegsspielzeug „böse“ ist. Die Antipädagogik kam auf, Autoritäten wurden abgelehnt. Macht und Gewalt wurden negativ gedeutet und grundsätzlich in Frage gestellt. Im Laufe der Zeit musste man jedoch die Erfahrung machen, dass die „bösen“ Tyrannen oder Präsidenten die Macht einfach an sich rissen, die Gesellschaften ihnen hilflos ausgeliefert waren und gegen sie keine Macht hatten. Und es war die bittere Erkenntnis, dass die offene und demokratische Gesellschaft solche Entwicklungen möglich gemacht hat. In der Krise konnten Macht und Gewalt jedoch wieder positiv gewendet werden, indem sie bei den Maßnahmen zur Einschränkung der Infektionen auf die Politiker übertragen wurden. Dieser Umgang mit Macht ist die Inszenierung einer Generation, die auf der einen Seite Macht und Gewalt ideologisch ablehnt und sich auf der anderen Seite hilflos fühlt. Die freiwillige Befolgung der einschränkenden Maßnahmen löst das Dilemma, dass Gewalt abgelehnt wird und gleichzeitig den Politikern übertragen wird. Weil diese Generation sich als ungeschützte Generation fühlte und „Waffen“ ablehnte, mit denen sie sich hätte schützen können, gleichzeitig erleben musste, dass die Emanzipationsbewegungen, der gesellschaftliche Diskurs und auch „Die Grünen“ als Sinnbild für eine neue politische Mitte die Welt nicht besser und menschlicher gemacht hatten, beansprucht sie jetzt als „Wiedergutmachung“ den Schutz der Gesellschaft. Was der Elterngeneration vorgeworfen wurde, nämlich im Nationalsozialismus schuldig oder mitschuldig geworden zu sein, wird formal fortgeführt. So wie die Eltern schon nicht ihre Schuld einsehen wollten, blenden die Töchter und Söhne aus, dass sie für die katastrophalen Folgen der Wachstumsgesellschaft mitverantwortlich sind. Die Aneinanderreihung von Krisen bzw. die Vorstellung, dass es so sei, ist die wiederholte Inszenierung von Schuldigen; bei der Finanzkrise waren es die bösen Banker, bei der Flüchtlingskrise diejenigen, die die Willkommenskultur kritisch sahen. Bei der Corona-Krise gibt es jedoch keine offensichtlich Schuldigen, es bleibt daher nur, diffuse Schuldgefühle zu evozieren, die sich auf den fehlenden Schutz einer Generation beziehen. Die Folgen für die folgenden Generationen werden dabei kaum beachtet. Dies entspricht der Perspektive einer Generation, die Schuld in der Vergangenheit sucht oder auch leugnet und noch zu wenig realisiert hat, dass ein umfassendes Verständnis von Schuld auch die Zukunft betrifft, also die Frage, was mein jetziges Verhalten für zukünftige Generationen bedeutet.
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