1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Schmerzhaft ist dabei der Abschied von der stillschweigenden Vorstellung, „innerhalb der Kirche gäbe es, bei allen sündenbedingten Abweichungen, nur glaubenskonforme Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen.“ 62Zwei Reaktionsmechanismen sind in diesem Fall typisch für viele Abwehrhaltungen gegenüber Veränderungen in der Glaubenspraxis der Mitglieder: Zum einen besteht die Gefahr, die erhobenen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen zu „taufen“ und damit in die bestehenden Normalinterpretationen der kirchlichen Kasualien einzuordnen. Ebensolches geschieht im Umgang mit außerchristlichen Spiritualitäten, welchen dann im weitetesten Sinne christliche Handlungsintentionen zugedeutet werden, um z.B. esoterische Heilungs- oder Selbsterlösungspraktiken als Angebot der Erwachsenenbildung in einem katholischen Bildungshaus zu legitimieren. Eine Vereinfachung im Umgang mit Kasualienfrommen wäre aber auch die heimliche Disqualifizierung derer, die an Weihnachten mit festen liturgischen Vorstellungen die Christmette besuchen oder eine traditionelle Hochzeit sehr feierlich wünschen.
Ein anderer Reaktionsmechanismus im Umgang mit Veränderungen ist die „Exkommunikation“ der „Abweichler“ um sich mit den „Abtrünnigen“ nicht auseinander setzen und sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen. Beide Abwehrstrategien bestimmen das gegenwärtige Bild kirchlichen Handelns angesichts neuer Phänomene der Spiritualität und Lebensform. Das Verständnis des „Katholischseins von der Wiege bis zur Bahre“ ist für viele Katholiken nicht mehr gültig. Kirchenmitgliedschaft und Teilnahme am kirchlichen Leben gehören für viele getaufte Gemeindemitglieder nicht selbstverständlich zusammen.
Die Entscheidung kirchendistanzierter Menschen anlässlich wichtiger Lebenspassagen den Kontakt mit ihrer Kirche und den Sakramenten zu suchen, ist Ausdruck der Hoffnung, Lebensdeutung an den Übergängen, Schutz, Segen und Halt zu finden. Dieses „Sympathisanten-Umfeld“ sieht im Priester vorrangig die sakramental-mystagogische Kompetenz. Die Dimension des Heiligen und des Geheimnisses wird gerade in Grenzerfahrungen in bestimmten kultisch-liturgischen Zeichen, Gesten, Handlungen vergegenwärtigt. Es handelt sich um ernsthafte und eigenständige Konzepte der Sinngebung und Lebensbewältigung, die sich im Unterschied zu früheren katholischen Frömmigkeitsentwürfen von der Kirche (als Institution) weitgehend gelöst haben und im privaten Bereich verortet werden. Auch wenn die kasuale (Wieder-)Begegnung mit der Kirche als positiv geschildert wird, kommt es nicht mehr zu einem dauerhaften Kontakt. Die „kirchlich-kasuale“ Beteiligung ist für viele ein integraler Bestandteil eines umfassenden Frömmigkeitsentwurfes.
Die beschriebene „Kasualien-Frömmigkeit“ hinterfragt die meisten Konzepte von Gemeindeaufbau und damit das Selbstkonzept vieler „Gemeindebauer“. Anerkennung erfährt pastorales Personal durch gut gestaltete Kasualienfeiern oder sozialpädagogische Leistungen in der Katechese und Schule. Die Legitimität dieses Anspruchsverhaltens wird in der Kirchensteuer gesehen. Der Berufsstolz eines Pfarrers oder Diakons macht sich jedoch gerade nicht an diesen Dienstleistungen fest. 63Pastoralreferenten gestalten theologische Vortragsabende, der Pfarrer bemüht sich um eine ansprechende Erklärung des Firmsakraments an verschiedenen Elternabenden oder gestaltet eine Reihe von Weggottesdiensten im Rahmen der Eucharistiekatechese. Der Großteil der Katholiken lebt jedoch eine „natürliche Religiosität“. „Ohne viel mit dem trinitarischen, christologischen und ekklesiologischen Credo anfangen zu können, ohne es aber auch direkt und dezidiert abzulehnen, möchten sie einfach nur bei bestimmten Anlässen für sich und ihre Kinder den Segen Gottes erbitten.“ 64Das Interesse an Kirche bezieht sich auf die Kasualie selbst und bleibt auf Vorgänge rund um das kirchliche Ritual begrenzt. Trotz positiver Erfahrungen mit Kirche, im Erleben z.B. einer Trauung, kommt es zu keiner dauerhaften Besuchspraxis der sonntäglichen Eucharistiefeier. Ausschlaggebendes Kriterium ist immer die persönlich gefühlte biographische Betroffenheit, welcher besonders in Kasualfeiern Rechnung getragen werden soll.
Wie bewahrt eine Ortsgemeinde ihre Identität, wenn die Mehrheit nur ab und zu „tanken“ will? Wie bewahrt ein Pfarrer seine Kraft, wenn immer mehr Menschen ihn nur an den „Übergängen“ liturgisch in Anspruch nehmen oder diakonische Begleitung „abrufen“, wenn Lebensentwürfe zu zerbrechen drohen? Wenn die meisten Menschen nur an den Lebensübergängen um seelsorglich-rituell-liturgische Begleitung nachfragen, sind Seelsorger nicht mehr als Hirte gefragt. Die Rolle des Seelsorgers als liturgischem „Anbieter“ verändert sich hin zum Gastgeber, der ohne eigene Kränkung offen dafür ist, Menschen an gewissen Wendepunkten zu begleiten, ohne dauerhaft erwiesene „Treue“ zum Gemeindeleben erwarten zu können.
Kränkungspotenzial für Seelsorger liegt darin, dass der Kirche kaum mehr eine notwendige Funktion für die persönliche Alltagsfrömmigkeit beigemessen wird. „Insofern die Kirche immer weniger als spirituell relevantes Moment für den Alltag aufgefasst wird, ist dann doch von einem Wandel im Kirchenbild zu sprechen. Vor dem Hintergrund der neueren Sozialgeschichte des Katholizismus dürfte dieser Befund als signifikantes Novum zu bezeichnen sein.“ 65Die teilweise geäußerte positive Identifikation mit der Kirche trug bei den Befragten meist keine allgemeinen, sondern „okkasionelle“ Züge. Den Kasualien, so Först, messen die Befragten Bedeutsames zur Lebensorientierung bei, „besonders hinsichtlich einer von Unwägbarkeiten gezeichneten Zukunft. Verglichen dazu, spielt die Institution Kirche, welche die Kasualien ausrichtet, eine weit untergeordnete Rolle.“ 66
Der Verlust der kirchlichen „Deutungshoheit“ schmerzt Katecheten, die in der Vorbereitung und Gestaltung von Kasualienfeiern als Institutionsvertreter fungieren. Als Gemeindeverantwortliche und als Anwälte der real existierenden Kirchengemeinschaft am Ort müssen sie erkennen, dass die vielfältigen Angebote der Pfarrei von Kasualienfrommen als nicht relevant eingestuft werden.
In diesem Dilemma zwischen realem Funktionieren von Kirche und ihrem Selbstverständnis arbeiten Seelsorger im Gemeindealltag. Zwischen den Polen „Was ist leistbar?“ und „Was ist theologisch vertretbar?“ bewegt sich der Seelsorger. Praktische Theologen im Pfarreidienst sehen sich angesichts einer „unbekannten Mehrheit“ im eigenen Haus mit gänzlich neuen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen von zentralen kirchlichen Ereignissen, wie Sakramente es sind, konfrontiert und müssen sich bei Kasualhandlungen und der Gestaltung von Gottesdiensten konkret positionieren.
Regelmäßig praktizierende Katholiken fühlen sich durch Kasualien in den Sozialraum der Kirche integriert, „Kasualienfromme“ lehnen genau diesen Anspruch als „Vereinnahmung“ ab. Das „beredte Schweigen“ 67seitens der Kasualienfrommen, wenn Hauptamtliche einladen, liturgische Feiern mitzugestalten und sich aktiv einzubringen, resultiert auch aus einem völlig verschiedenen Kasualienverständnis. „Kasualienfromme“ haben nicht das Hineinwachsen in die kirchliche Gemeinschaft zum Ziel; die Differenz wird nicht ausgesprochen, sondern äußert sich in peinlichem Schweigen.
Gemeindeseelsorger stehen in einem Dilemma: Ihr Auftrag ist es, Gemeinde aufzubauen, den Glauben zu „verorten“ und spirituelle Beheimatung für die Gemeinschaft der Glaubenden und Suchenden im pastoralen Lebensraum zu bieten. 68Andererseits wächst der Wunsch nach individueller, rein biographisch ausgerichteter Kasualiengestaltung. Kasualiengottesdienste müssen durch den Vorsteher persönlich gestaltet sein, um die biographische und theologische Bedeutsamkeit aufscheinen zu lassen. Dies verlangt vom Seelsorger einen hohen Zeit- und Arbeitsaufwand, ohne dass durch dieses Bemühen die Zahl der aktiv praktizierenden Gemeindemitglieder dauerhaft erhöht würde oder der Gemeinschaft vor Ort aktive Mitglieder hinzugefügt werden könnten.
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