Atheistische wie agnostische Haltungen weisen offenbar analog zu glaubenden Einstellungen eine große Vielfalt auf. Vereinnahmt werden soll niemand – das wäre gegen die Berufsethik. Übergangen werden in dem, was einem an Grundwerten und -orientierungen wichtig ist in der Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung, sollte aber möglichst auch keiner.
55So auch Wolfgang Schoberth: „Menschsein wird sich selbst in mannigfaltiger Hinsicht fraglich; und jeder Versuch, eine Fragerichtung und eine Zugangsweise zur maßgeblichen zu machen, führt in unzulässige Reduktionen, die die anthropologische Theorie entweder letztlich irrelevant oder ideologisch machen. Die faktische Vielzahl anthropologischer Ansätze und Themenstellungen ist also nicht lediglich ein kontingentes Ergebnis der Wissenschafts- und Geistesgeschichte, sondern folgt aus der Vielzahl der Perspektiven, in denen Menschen sich selbst thematisch werden.“ (Schoberth 2006, S. 15)
56Diese Komplexität begegnet auch innerhalb der Psychiatrie mit ihren vielfältigen Paradigmen, wie der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs bemerkt: „Denn die Vielfalt teils komplementärer, teils konkurrierender Ansätze macht nicht nur die Lebendigkeit und den Reichtum der Psychiatrie aus, sie entspricht auch ihrem Gegenstand, nämlich dem psychisch kranken Menschen in seiner ganzen Komplexität.“ (Fuchs 2010, S. 236)
57Auf die Situation der Krankheit angewandt: „So aber kommt der Kranke in einem intensiven Sinn in die Situation des Menschen überhaupt: in ein Wissen der Erfahrung von sich selbst, dessen letzte Deutung ihm selber dunkel bleibt. Der Mensch erfährt sich als Geheimnis, als eine Frage, auf die er keine Antwort hat. Er erfährt das eigene Dasein als dunkel und antwortarm, nicht weil es wirklichkeitsleer wäre, weil nichts dahinter wäre, sondern weil sein Gehalt den Fragenden übersteigt.“ (Rahner 1966, S. 267)
58Diese Offenheit könnte analog sein zur theologischen Betrachtung vom Menschen als Geheimnis: Es ist ökumenischer Konsens, dass der Mensch wesentlich „von seiner Beziehung zu Gott her“ zu sehen sei, dadurch bleibe er – so Gisbert Greshake – Geheimnis: „Wenn aber dies die tiefste Aussa ge über den Menschen ist, daß er vor dem unendl., unbegreifl. Gott steht, so folgt daraus, daß er selbst in seinem innersten Wesen unbegreiflich ist, ein Geheimnis, das über alle Definitionen hinaus ins Grenzlos- ‚Undefinierbare‘ verweist.“ (Greshake 1993, Sp. 730)
59Orig.: Religion As a Cultural System (London: 1966).
60Zur Nicht-Notwendigkeit und Freiheit von Religiosität siehe besonders auch Ingolf U. Dalferth (vgl. S. 37). – Der Philosoph Max Scheler (1874–1928) dagegen nahm in seiner Phänomenologie der Religion – ausgehend vom „Wertfühlen“ und seiner „materialen Wertlehre“ – eine „Absolutsphäre“ des „Seins und der Werte“ an, die jeder Mensch wesensnotwendig besitze (vgl. Scheler 1921, S. 560): „Da der religiöse Akt eine wesensnotwendige Mitgift der menschlichen geistigen Seele ist, kann gar nicht die Frage ergehen, ob er von einem Menschen vollzogen wird oder nicht. Es kann nur die Frage ergehen, ob er das ihm adaequate Objekt findet, das Ideenkorrelat, zu dem er wesensmäßig gehört, oder ob er auf ein Objekt zielt und es als heilig und göttlich, als absolutes Wertgut bejaht, das seinem Wesen widerstreitet, da es der Sphäre endlicher, kontingenter Güter angehört. Es besteht das Wesensgesetz: Jeder endliche Geist glaubt entweder an Gott oder an einen Götzen.“ (ebd., S. 559) Das wird man so heute nicht mehr ohne weiteres vertreten können. – Zu Scheler vgl. etwa bei Richard Schaeffler den Abschnitt „Das religiöse Apriori und die Sinnlogik der religiösen Akte: Max Schelers Ansatz zu einer Phänomenologie der Religion“ (Schaeffler 2002, S. 130–133).
61„Anima intellectiva dicitur esse quasi quidam horizon et confinium corporeorum et incorporeorum.“ Dazu Fußnote 22: „»Die geistige Seele, so heißt es, ist etwas wie ein Horizont und eine Grenze zwischen Körperlichem und Unkörperlichem.« Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles II, 68, 1453b.“ (Welte 1969, S. 89)
Vgl. zu dieser Stellung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit auch Karl Rahner im „Grundkurs“ über „die ganz eigentümliche Situation, die gerade das Wesen des Menschen auszeichnet: Insofern er seine geschichtliche Bedingtheit als solche erfährt, ist er schon in einem gewissen Sinne über sie hinaus und kann sie trotzdem nicht eigentlich verlassen. Dieses Gestelltsein zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit macht den Menschen aus und zeigt sich noch einmal dadurch, daß sich der Mensch gerade in seiner unendlichen Transzendenz, in seiner Freiheit als der sich Auferlegte und geschichtlich Bedingte erfährt.“ (Rahner 1976, S. 53)
62Vgl. dazu im „Grundkurs des Glaubens“ die Einleitung sowie die Kapitel „Erster Gang: Der Hörer der Botschaft“ und „Zweiter Gang: Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis“ (ebd., S. 13–96).
63Ein kurzer Seitenblick in die Philosophie des 19. Jahrhunderts: Albert Franz schreibt unter dem Titel „Der Mensch als Wesen der Transzendenz“ über die Spätphilosophie F. W. J. Schellings: „Wie auch immer seine Synthese im einzelnen beurteilt werden mag: Daß mit ‚Transzendenz‘ der Nerv sowohl des philosophischen Denkens als auch jeden religiösen Vollzuges berührt wird und daß es gerade hierbei um die Existenz des Menschen, und zwar des konkreten Menschen, von Grund auf geht, dies kann nach Schelling nicht bezweifelt werden.“ (Franz 1992, S. 263)
Für den Begriff Transzendenz vgl. auch Richard Schaeffler über Probleme im verbreiteten traditionellen Verständnis (das Transzendente als „jenseits“ unserer Erkenntnis und damit relativ definiert, in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen; Religion werde dann als Verhältnis zu einer Wirklichkeit verstanden, die unserer Alltagserfahrung unzugänglich bleibe und damit auf die Sphäre „übernatürlicher“ Ereignisse eingeschränkt), wogegen in einem transzendentalen Verständnis Transzendenz als Möglichkeitsgrund von Akten des Subjekts betrachtet werde(vgl. Schaeffler 2002, S. 208f).
64Für religionspsychologische Untersuchungen anwendbar sind auch die Analysen des menschlichen Bewusstseins ( human consciousness) des Philosophen Bernard J. F. Lonergan, vgl. v. a. die Werke „Insight“ (Lonergan 1957) / dt.: „Die Einsicht“ (Lonergan 1995) sowie „Method in theology“ (Lonergan 1972) / dt.: „Methode in der Theologie“ (Lonergan 1991). – Vgl. etwa die zusammenfassenden Darstellungen bei Daniel A. Helminiak im Blick auf eine Konzeption von Religionspsychologie, die die menschliche Seite religiöser und spiritueller Phänomene untersucht (Helminiak 2006, S. 208–212, 2008, S. 170)– 172). „The human spirit is a structured, open-ended, dynamic dimension of the mind. The human spirit is inherently self-transcending, geared to reach ever beyond itself. It is oriented to the universe of being, to all that there is to be known and loved, to reality.“ (Helminiak 2006, S. 211)
65Baier greift teilweise auf die berühmte anthropologische Definition von Spiritualität bei Hans Urs v. Balthasar zurück, eine der ersten, die einen „weiten“ Begriff zu erfassen suchte: „Vom gleichen allgemeinen Bewußtsein her ist positiv der Begriffsinhalt annähernd zu bestimmen als je praktische oder existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her.“ (Balthasar 1967, S. 247) – Zentral ist ihm die Geistigkeit des Menschen, der Begriff Spiritualität stellt den spiritus, den Geist in die Mitte, mit großer Weite: „Und doch braucht diese Weite keine entscheidungslose Verschwommenheit zu sein, sofern im Wort eine – wenigstens eine! – klare Grundentscheidung immer schon mitgesagt ist: daß der Mensch sich als Geist versteht und durch Geist definiert – und nicht durch Materie, nicht durch Leib, nicht durch Trieb. Geist aber eröffnet eindeutig, wenn auch geheimnisvoll, die Totalität des Seins, und zwar als absolute Totalität (da der Begriff des relativen Seins nur von einem Punkt aus gebildet werden kann, der die Relativität überblickt, anders gesagt, da der Wahrheitsanspruch des Geistes Absolutheit notwendig impliziert). Damit liegen die Dimensionen menschlicher Spiritualität grundsätzlich für uns offen.“ (ebd., S. 248) Erstveröffentlichung des Beitrags in Concilium 1 (1965), S. 715–722 ( = Balthasar 1967, S. 247– 263).
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