HERMANN SCHALÜCK
Den Gottesfaden erkennen
Die Ernte meines Lebens
Franziskanische Akzente
Für ein gottverbundenes und engagiertes Leben
Herausgegeben von Mirjam Schambeck sf und
Helmut Schlegel ofm
Band 16
Die Suche der Menschen nach Sinn und Glück ernst nehmen und Impulse geben für ein geistliches, schöpfungsfreundliches und sozial engagiertes Leben – das ist das Anliegen der Reihe „Franziskanische Akzente“.
In ihr zeigen Autorinnen und Autoren, wie Leben heute gelingen kann. Auf der Basis des Evangeliums und mit Blick auf die Fragen der Gegenwart legen sie Wert auf die typisch franziskanischen Akzente:
Achtung der Menschenwürde,
Bewahrung der Schöpfung,
Reform der Kirche und
gerechte Strukturen in der Gesellschaft.
In lebensnaher und zeitgerechter Sprache geben sie auf Fragen von heute ehrliche Antworten und sprechen darin Gläubige wie Andersdenkende, Skeptiker wie Fragende an.
HERMANN SCHALÜCK
Den Gottesfaden erkennen
DIE ERNTE MEINES LEBENS
Herzlicher Dank geht an Adrian Schmider für die Zuarbeit
bei den Korrekturen sowie an die Franziskanerinnen
der Barmherzigkeit in Luxemburg und die Gemeinschaft
der Franziskaner in Hofheim am Taunus.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2018
© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: www.wunderlichundweigand.de
(Foto: © TT studio/ shutterstock.com)
Satz: Hain-Team ( www.hain-team.de)
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-04465-7
978-3-429-04970-6 (PDF)
978-3-429-06390-0 (ePub)
Inhalt
Zur Einführung
1. Wurzeln und Visionen
Siedler oder Suchender?
Visionen sind wie Sterne
In Geistes Gegenwart
2. Gott erfahren – von Gott reden
Am seidenen Faden
Gottesrede heute
Existentielle Auslegung
„Mea res agitur“
Die richtigen Fragen stellen
Wenn Franziskus von Assisi heute predigen würde
Theologie der Befreiung
Mit Ohr und Herz und Fuß
Nada te turbe – Gotteserfahrung in engagierter Gelassenheit
Engagierte Gelassenheit: Jesus schreibt im Sand
In Berührung mit der Quelle bleiben
Ein Wunder der Verwandlung
Das Beispiel Marias
Kontemplation: Gott in allem finden
3. Jesuanisch leben
Wie „Inkarnation“ heute verstehen?
Befreiung als Programm
Ein Esel an Jesu Weg
Auferstehung ins Leben
Die weiße Rose der Hoffnung
Orientierung am irdischen Jesus
Der demütige Gott
Christologie von unten
Was bedeutet Erlösung durch Leiden?
Eine franziskanische Perspektive
Eine Spiritualität für heute
Ein Weg der Compassion
Das Beispiel von Bambamarca
Ein Kreuzweg in der Wüste von Nevada
Stationen der Hoffnung
Zerstörtes wird wieder heil – eine österliche Erfahrung
4. Meditieren
Symphonie für eine neue Welt
Gebet zum Heiligen Geist
Hymnus
Was bleibt?
5. Anmerkungen
6. Zum Weiterlesen
7. Abkürzungsverzeichnis
Zur Einführung
Je älter ich werde, desto mehr bin ich überzeugt: Zukunft braucht Herkunft. Wie steht es um mein Verhältnis zur Zukunft, meine persönliche, aber auch die unserer Gesellschaft, unserer Kirchen? Zur franziskanischen Bewegung, zu der ich gehöre? Zur Schöpfung, von der wir ein so kleiner Teil sind? Erfüllt mich der Blick darauf mit Zuversicht, mit Sorge, mit Resignation?
Der Blick zurück ist ebenfalls nicht einfach und geradlinig. Erich Kästner sagt unverblümt: „Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht und bildet die Menschen um. Wer das, was schön war, vergisst, wird böse. Wer das, was schlimm war, vergisst, wird dumm.“
Im vorliegenden Band erinnere ich mich. Erinnerung ist Leben. Es ist ermutigend, an das erinnert zu werden oder selber daran zu erinnern, was durch Gottes Kraft bewirkt wurde und gelungen ist, an die Zeichen seiner Nähe, Barmherzigkeit und Treue. Die Wurzeln liegen in Gottes Schöpferkraft. Darin eröffnet sich auch unsere Gegenwart und Zukunft.
Als Christen und Franziskaner sind wir keine Museumswärter oder Hüter einer gerade noch glimmenden Asche. Wir stehen in einer lebendigen Tradition. Wir leben in den Welterfahrungen der Jesusbewegung, die Verstand und Poesie, Rückgrat und Beweglichkeit, Charme und Begeisterungsfähigkeit hat. Auch Franz von Assisi war davon gepackt.
Sich der Geschichte Gottes zu erinnern stiftet wahrhaft Leben, stärkt uns den Rücken, weitet den Horizont und gibt, bei aller Mutlosigkeit und Enttäuschung, eine ungemeine Kraft.
1. Wurzeln und Visionen
Siedler oder Suchender?
Vor vielen Jahren versuchte ein junger Taxifahrer bei einer Taxifahrt in Xian (China) in rudimentärem Englisch mein Alter zu schätzen. Ich war gerade fünfzig geworden. Er aber meinte: Du bist sechzig oder siebzig. Ich war irritiert. Sehe ich wirklich so alt aus? Sind seine Augen schuld? Der Chinese gab mir jedenfalls zu denken: Wie viel Leben hast du in dir? Welches Leben? Tragen dich noch gute Erwartungen, helle Ziele oder drücken dich schlechte Erfahrungen? Zeigt meine Lebenslinie aufwärts oder läuft sie nach unten? Was erwarte ich?
Ein Eintrag in mein Tagebuch vom März 1999 lautet: „Warum ich eines Tages alle diese Bruchstücke meines Lebens zusammentragen werde? Ich möchte den roten Faden erkennen, den ich nicht immer sehe. Tiefenschichten möchte ich ausleuchten in all dem Lauten und Oberflächlichen. Die Spuren von Gottes Geist nachzeichnen. Auferstehen aus manchem dunklen Tal. Lass dir mit Christa Wolf sagen: ‚Wenn du aufhörst zu hoffen, kommt, was du befürchtest, bestimmt‘.“
Ich lese immer wieder gern diese Zeilen von Hans Magnus Enzensberger: „Die Frage, ob es mit dem Strom oder gegen ihn zu schwimmen gilt, scheint mir veraltet, weil sie eine unerträgliche Vereinfachung voraussetzt. Ergiebiger scheint mir das Verfahren des Seglers zu sein, der sowohl mit dem Wind wie gegen ihn kreuzt. Ein solches Vorgehen, auf die Gesellschaft bezogen, erfordert extreme Aufmerksamkeit und stoischen Unglauben. Wer auch nur das nächste Ziel erreichen will, muss Zug um Zug mit tausend unvorhersehbaren Größen rechnen und darf sich keiner von ihnen anvertrauen.“ 1
Thomas Merton unterscheidet einmal seekers von dwellers, d. h. Suchende von solchen, die einen festen Platz eingenommen haben. 2Die dwellers bevorzugen feste Plätze und fühlen sich eigentlich nur innerhalb ihres bekannten Territoriums sicher. Es ist für sie heilig, ihre Spiritualität bewegt sich in der Regel in Bahnen, die von der Tradition gesichert sind. Natürlich werden auch sie von Veränderungen berührt, aber sie bleiben fest verankert. Im Gegensatz dazu erkunden die seekers neue Perspektiven. Sie bewegen sich innerhalb alternativer und zuweilen unübersichtlicher Systeme des Glaubens und seiner Praxis. Das Heilige ist für sie fließend und übertragbar, Spiritualität ist ein Prozess, ein Zustand des ständigen Werdens. Ihre Sprache passt sich dieser Erfahrung an. Eine Vision ist eine Quelle neuer Dynamik und der Beginn eines neuen Aufbruchs.
Paul Michael Zulehner ist überzeugt, dass die Vision die einzig wirksame Gegenkraft gegen Resignation ist. 3Visionen sind also alles andere als überflüssig. Sie sind notwendig, um immer wieder zu spüren, was in unserer Welt und in der Kirche nicht richtig und nicht gerecht ist. Zu spüren auch, dass wir manches aus eigenem Vermögen allein gar nicht ändern können. Sie sind – biblisch gelesen – Gottes Einladung, uns von der Dynamik des Reiches Gottes tragen zu lassen. Sie sind und bleiben damit auch eine Kraftquelle zur Veränderung dessen, was von Menschen verändert werden kann und muss, und zugleich eine Quelle der Hoffnung auf das, was nur Gott allein bewirken kann.
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